16 Sep

Autobiographische Blätter – Neue Versuche – Leseprobe # 49

Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich, denke ich!

(ein philosophisches Märchen, Teil I)

Vor langer, langer Zeit – genau genommen vor fünfundsiebzig Jahren – kam elendig schreiend ein kleines Kind zur Welt – umgeben von sechs Schutzengeln, besser bekannt als die Dämonen der Angst.

In dem düsteren Raum – im offenen Kamin prasselte ein nur wenig wärmendes Feuer – lag die Wöchnerin schwer krank auf einem Notbett, ihr Mann – auch er vor Angst kaum bei Sinnen – half nach Kräften. Aber sie hatten wenig Hoffnung, dass der schreiende Junge die nächsten Stunden überleben würde. Wenigstens hatten sie ihn gemeinsam zur Welt gebracht.

„Wo bleibt nur der Arzt?“ keuschte sie unter schlimmen Schmerzen.

„Der! Der traut sich doch nicht, der hat bestimmt Angst.“

„Und die Hebamme, warum ist sie nicht gekommen?“ ächzte die Mutter.

„Ach die! Die hat sicher andere Sorgen, als uns zu helfen“, stöhnte der Vater mit Händen voller Blut.

Und tief in den Ecken des dunklen Zimmers hörten schweigend die Dämonen zu. Sie nickten. Zurecht waren sie gekommen. Leise schlichen sie sich zu den dreien hin und flüsterten dem elenden Schreihals unentwegt ins winzige Ohr:

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

Ob er es hören konnte? Sie waren sicher zu leise. Aber es war eine schier endlose Litanei.

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

So wurde die Angst sein verlässlicher Begleiter von Anfang an.

Die ganze Welt um ihn herum versank ja auch gerade in Angst und Schrecken. Der große Krieg lag in den letzten Zügen und suchte, wen er noch alles mitreißen konnte.

Aber das Unheimliche an diesem Schrecken und dieser Angst war, dass sie die Menschen packten, diese aber stumm blieben. So hörte auch das Neugeborene nach und nach auf zu schreien. Aber es fing nicht an zu trinken, es wurde immer weniger, immer stiller.

Die kranke Mutter betete zu ihrer Göttin, ihr doch in ihrer Not zu helfen. Und sie wurde wohl erhört. Eine Nachbarin tat täglich das Nötigste, um das neue Menschenkind am Leben zu erhalten. Sie kam jeden Tag. Die Mutter, in ihren Fieberträumen, bekam es kaum mit.

Auch der lange große Krieg schlidderte zappelnd in sein Ende. Doch noch mussten junge Männer an den Galgen, wenn sie nicht mehr kämpfen wollten. Man hängte ihnen Pappschilder um den Hals, worauf geschrieben stand: Deserteur oder Verräter oder Feigling. Und stolze Offizier unterschrieben eiskalt Todesurteile, viele. Voller Angst und schweigend sahen die Überlebenden zu. Schweigen und Angst, das waren die beiden Portalfiguren des kleinen Jungen, der dennoch leben wollte.

29 Aug

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 45 – Leseprobe

Wahrhaftiges oder Erdichtetes – wo ist der wirkliche Weg?

Zeit und Raum scheinen unsere Erlöser zu sein: da wir beides nur mit unserer Wahrnehmung und deren Umsetzung im Gehirn benennen, sichern und speichern, können wir immer das Gefühl haben zu wissen, was Sache ist.

Zurückblickend wird ihm immer deutlicher, dass es die Intuition war und ist, die ihn leitete und leitet, nicht der „analytische Verstand“.

Wie oft hat er schon als Schüler über die „Resultate“ der Naturwissenschaften gelästert, sie abgelehnt, verweigert. Emotional und ohne Argumente. Einfach so. Die Zahlenfetischisten galten ihm als Traumtänzer.

Wie sehr hat er sich über die wissenschaftliche Haltung der Geisteswissenschaften geärgert, wenn sie sich dem naturwissenschaftlichen Denkmuster gerne unterwarfen: Generative Transformationsgrammatik! Was für ein Münchhausen-Begriffs-Monster, mit dem sich die Linguistik, bzw. die Germanistik versuchte, dem Wissenschafts-Gestus der Naturwissenschaften anzugleichen! Ihm wurde geradezu körperlich schlecht, wenn er Bücher lesen sollte, die solchem Ansinnen verpflichtet waren. Wie sehr hat er sich an der Sprache der Wissenschaft gestoßen, die einfach durch einen aufwendigen Begriffsapparat zu verschleiern versuchte, dass es reine Kopfspiele waren, die da veranstaltet wurden, reine Kopfspiele. Nur weil man ein Maßband bemühte, war noch nichts gewonnen, was Wirklichkeit und Wahrheit im Grunde meinen könnten.

Es war geradezu ein ununterbrochener Amok-Lauf, den er sich abverlangte, den er aber nicht durchschaute. So kam er sich eher vor als Abwegiger, als Unverständiger, als Nicht-Könner, der einfach der Wissenschaftssprache nicht gewachsen war. Punkt. Der schwarze Peter lag „also“ bei ihm, musste er meinen. Das aber machte nur noch wütender.

Als Lehrer ging er in den Untergrund. Seine Botschaft war stets die Annäherung, die Möglichkeit, die Variante, nicht aber ein unanfechtbares Ergebnis. Textverständnis stets ein Wagnis und ein Sich-Treffen auf waghalsigsten Brücken. Erst recht bei der Notengebung. Nie waren ihm solche Zahlen wichtig, Wertschätzung war stets jenseits solcher scheinbarer Sicherheiten, nie sollten sie seine Bemühungen anfechten können. Die Lernenden sollten lernen, sich selbst beim Denken vertrauen zu können. Intuitiv.

Inzwischen wird er sich sicherer und sicherer in seinen Unsicherheits-Versuchen. Sie sind wohltuend vorläufig, offen für Korrekturen, einladend zu Alternativen, voller Witz und Humor, weil sie sich nicht allzu ernst nehmen. Eher ein Spiel in der Sprache, das vom Ergebnis her völlig offen bleibt.

Summa:

Das Wahrheits-Ritual kann nur eine Tangente sein, die sich verlegen dem Gedachten in die schräge Quere stellt, um es in die Not wendenden Schranken zu weisen. Denn der Gewissheits-Gestus der Naturwissenschaften blendet

nur – zwar sehr erfolgreich (vor allem die Männer!) – aber doch blind machend für die causa humana, die gekennzeichnet bleibt von Gebrechlichkeit, Vergänglichkeit und Irrtum.

So machen die Erdlinge Gedankensprünge in ihrer Bildersprache, damit anschaulich wird, was undurchschaubar bleibt: Wenn jemand sagt: Alles fließt, denken wir gerne an einen Fluss, an dessen Ufer wir winkend stehen und Ausschau halten nach Nessie oder dem „Evangelium der Aale“…

Selbst alle sogenannten Abstraktionen (Abziehbildchen…hihihi…) bleiben dennoch das, was sie sind, Gedankenspiele auf dünnestem Eis. Da lässt sich zwar gut Schlittschuh Laufen (wieder der Griff zum Bildervorrat!), aber eben auch wunderschön ausrutschen und hinfallen. Mag der Berg an wissenschaftlichen Begriffen auch noch so hoch und staunenswert erscheinen, er bleibt nicht nur eine Erscheinung, er ist auch nur ein Wörterberg. Frei erfunden, besteigbar in der Phantasie, in der Wirklichkeit eine bleibende Fata Morgana. Wissenschaftler in der Weltkugel ratarm.

Nehmen wir den Raum 10 im Adolfinum: Wenn ihn sich die damals Anwesenden heute vorstellen, werden unglaubliche Varianten aufschreibbar sein, und was darin zu hören war, werden unendlich viele Erinnerungsberichte möglich machen, alle mit dem Gestus der Wahrheit geschmückt, bzw. beschwert. Aber wer beschwert sich denn darüber? Außer mir doch niemand. Ich habe das Problem. Punkt. Oder vielleicht doch nicht?

Auf alles gibt es eine probate Antwort, die Fehler sind längst ausgemacht und markiert. Ganz schnell, ganz einfach. Und so wahr. Wirklich?

Unser Gedächtnis ist synchron so schnell, uns angenehme Denkangebote als wahrhaftige Alternativen beim Denken zu präsentieren, dass gar keine Zeit mehr bleibt, sie kritische zu hinterfragen. Oder?

Denken ist ein unfassbar lustvoller Vorgang.

Gefährlich schön, verführerisch, aber auch eine Odyssee.

Wieder so ein Bild.

Wie denn auch anders?

So wird es ein endloser Reigen um das goldene Kalb der Wahrheitssuche.

Also, tanzen wir, so lange unsere Beine uns zu tragen vermögen!

Musik!

02 Jul

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 44 – Leseprobe

Vor der Ankunft in Ithaka

Parturiunt montes, nascetur riduculus mus…(Horaz)

Vulkane waren seine Lieblingsberge, schon immer. Er ist die Maus, die hektisch im Krater hin und her wuselt und nicht weiß, ob sie nach unten oder nach oben flitzen soll…Andere nehmen ihm die Entscheidung ab. Sprachlos spielt er mit und kommt voran.

Nach einer beispiellosen Irrfahrt über wild wogende Wellenberge an verführerischen Sirenen vorbei und nach manchen ungeplanten Landgängen auf fremden und unwirtlichen Inseln scheint er nun wieder in die Bucht von Ithaka einzulaufen…

Wenn er jetzt müde am Ufer steht und aufs unendliche Meer blickt, dann kommen sie wieder, die wohlversorgten Erinnerungsbilder und umschmeicheln den nachdenklichen Odysseus. Nein, er war nie ein listenreicher, nein, auch war er kein großer Krieger. Er war ein unruhiger Läufer, der nirgends wirklich sesshaft werden wollte. Er hat noch die freundlichen Worte des Abschieds im Ohr, die eben erst auf ihn herab rieselten. Man dankte ihm überschwänglich, bedauerte seinen Weggang. Dem Alten muss man kein Märchen erzählen. Aber die heilige Buerocratia will es so. Dann soll es auch so sein. Mit seiner weißen Mähne stand er da in der großen Halle, ließ sich beklatschen, beschenken und ging dann ins gleißende Licht hinaus.

Wie oft hätte er schon verabschiedet werden sollen? Wie sehr hat er solches Gebaren gemieden, gehasst? Nachdenklich lässt er die Augenblicke noch einmal vortreten:

„Nun, was willst du mir sagen, Mönch?“ „Nun. Du hast deine Sache gut gemacht, bis auf Mathematik. Die alten Sprachen, Geschichte – das war offensichtlich schon damals deine Welt.“

„Das mag wohl sein, aber ich hatte es nicht vor Augen. Ihr hättet deutlicher die Talente würdigen müssen. Man huldigte lieber der Distanz und blieb im Unverbindlichen. Schade. So wurde ich mir kaum bekannt.“

Schnell wendet er sich ab, sieht sich noch mit seinen beiden Portalfiguren im Siebengebirge zu Mittag essen, dann ist er wieder allein. Sie hatten ihn gefragt, wohin die Reise denn gehen sollte. Ausweichende oder irreführende Antworten gibt er gern, wenn überhaupt. Was soll er denn auch sagen? Er übt sich lieber weiter im Schweigen, eines seiner besten Disziplinen. In Uniform gab es sowieso nicht viel zu sagen. Er machte einfach, was er sollte, und machte es gut. Und zum Glück keine Verabschiedung am Ende.

So vergingen die Jahre. Wie in einem zittrigen Kaleidoskop verwackeln die Bilder kunterbunt in seinem Gedächtnis dazu. Sirenen gab es zuhauf.

(aus: Der Gesang der Flusskrebse. Roman von Delia Owens. Carl Hanser Verlag 2019 München – „…Kya ließ die Zeitschrift sinken. Ihre Gedanken

trieben dahin wie die Wolken. Manche Insektenweibchen fressen das Männchen nach der Paarung auf, überlastete Säugetiermütter verlassen ihre Jungen, viele Männchen entwickeln riskante oder gerissene Strategien, um ihre Konkurrenten bei der Fortpflanzung auszubooten. Nichts schien zu ungehörig, solange nur die Uhr des Lebens weiter tickte. Kya wusste, dass das keine böse Seite der Natur war, dass es sich lediglich um einfallsreiche Methoden handelte, um den Fortbestand der Spezies allen Widrigkeiten zum Trotz zu sichern. Bei Menschen musste es doch um mehr gehen.“)

Hätte es auch gehen können – zumal es über Nacht eine Pille gab, die alle Panik dem Männchen beim Kopulieren nahm. So suchte er hektisch nach der großen Zauberin, die es nicht gab. Der Fortbestand der Spezies unterlag fortan kopflastigen Weisungen und Zukunftsvisionen.

Und wie er jetzt so da steht, kann er nur den Kopf schütteln: Was für Wörterberge schüttete er vor sich auf, um sich dahinter ratlos verbergen zu können! Niemand bekam ihn damals wirklich zu Gesicht. Maskentanz, weiter nichts. Zauberreigen in Endlosschleife. Er muss vielen Abbitte leisten, vielen.

Wie auf einem Marathonlauf hastet er von Anlegeplatz zu Anlegeplatz, lässt sich gerne stärken – am besten im Laufen – und weg ist er wieder.

Schließlich entscheidet er abrupt am Ziel zu sein und will seinen Beitrag zum Fortbestand der Spezies leisten. Auch seine Begabungen beginnen Wirkung zu zeigen, allmählich.

Schließlich lässt er sich nach Jahren des Schaffens und Bildens verabschieden. Erst viel später wird er verstehen, wie gerne man ihn weg lobte – er war ihnen zu wenig vernetzt und zu erfolgreich unterwegs. So verstand er nichts von dem, was eigentlich abging. Ihm selbst versagte fast die Stimme dabei.

So legte er an einer neuen Insel an, die er maßgeblich neu gestalten wollte. Eine schöne Aufgabe für ihn, der er sich maßlos widmete. Den eigenen Kindern allerdings fehlte so zu oft der rastlose Architekt.

Und als er wieder in See stechen musste, verbat er sich vehement lobende Abschiedssuaden. Denn inzwischen war er nicht nur der Worte mächtig, sondern hatte auch gelernt dahinter zu schauen. Neid Missgunst und mutwillige Unterstellungen verbargen sich hinter säuselnden Lobeswolken. Stattdessen war es bloß guter Wind für die offene See. Reich beladen mit wertvollen Gütern und einer großen Familie legte er ab und fühlte sich frei wie ein Seeadler, der von oben das kleinliche Treiben scharf beäugt und gerne hinter sich lässt.

So begannen die großen Jahre und vergingen wieder. Feste ohne Ende? Wie vom Winde verweht stehen sie jetzt vor seinem wehmütigen Auge: Er war angekommen und demütig geht er in die Knie: Mutter Natur hat ihn reich beschenkt. Einiges von diesen Geschenken kann nun weiter wirken. Wie schön!