24 Apr

Europa – Mythos # 33

Ein schlimmes Erwachen aus einem schönen Traum

Chandaraissa glaubt den Lärm wie ein fernes Donnergrollen zu spüren, obwohl sie noch ganz in ihren traumhaften Bildern schwelgt. Die fremde Frau, ihre neue unerwartete Freundin, Europa, liegt mit ihr auf einem weichen Diwan; warme Haut an warmer Haut; verträumt lauschen sie den Klängen einer Flöte und dem Summen sanfter Frauenstimmen.

„Ich habe einen kühnen Plan, Europa“, flüstert sie ihr ins Ohr.

Und als Europa ihr langsam die Augen zuwendet – als erwache sie gerade aus einem glückseligen Traum – fährt sie raunend und spitzbübisch lächelnd fort:

Wenn es ein Sohn wird, dann werden wir ihn heimlich als Mädchen aufziehen; ihn mit all unseren Geschichten und Träumen verwöhnen, bis er groß genug sein wird, als Mann zu erscheinen. Er wird uns helfen, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück erfolgreich neu zu beleben. Was hältst du davon?

Europa staunt. Sprachlos blickt sie ihre neue Freundin an. Und gerade als sie antworten will, wie sehr sie…da wird aus dem fernen Donnergrollen plötzlich ein schmerzlauter Lärm, als wolle hartes Metall altes Holz zum Bersten bringen. Chandaraissa fährt hoch, so auch ihre beiden Priesterinnen, die immer im Vorraum auf wollenen Matten zu schlafen pflegen. Jemand schlägt fürchterlich laut gegen das Tor in der Mauer um den prächtigen Tempel der Göttin, der ehrfurchtheischenden. Belursi und Sarsa halten den Atem an. Wer kann das sein? Wer nähert sich da so unfromm dem heiligen Zirkel? Aber es bleibt ihnen kaum ein Herzschlag, darüber nachzudenken. Jetzt sind mitten im Radau auch zornige Männerstimmen laut brüllend zu vernehmen. Und bevor sie noch Zeit haben, sich ihre Priesterroben überzuziehen, zersplittern krachend die Türflügel; hastige Schritte, Schnaufen, Fluchen, und schon stehen sie waffenstarrend vor den ängstlich zurückweichenden Frauen, die wütenden Wachsoldaten des Herrn der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben:

„Aus dem Weg, ihr ängstlichen Hühner!

so beschimpfen sie die jungen Frauen; dabei werfen sie lüsterne Blicke auf die durchsichtigen Nachtgewänder der vor ihnen zitternden Priesterinnen. Das Schnaufen von Thortys und Nemetos erinnert fast an das Grunzen von Schweinen, so erregt hat sie ihr Machtgefühl und der Anblick von kaum verhülltem nackten Fleisch. Sie wollen ihren Auftrag recht gründlich erledigen. Sie werden später sagen, die beiden Frauen hätten sich ihnen lüstern angeboten, sie verführt. Wie auf ein verabredetes Zeichen lassen sie Schilder und Lanzen fallen, reißen ihre Lätze auf, stürzen sich auf die im Fallen vor Entsetzen schreienden Priesterinnen. Aber im selben Moment öffnet sich die nächste Tür und Chandaraissa ruft ein lautes und gebieterisches:

„Halt!“

in den Vorraum. Vor Schreck geraten die beiden blindwütigen Mordbuben ins Straucheln, die beiden Frauen rollen sich schnell zur Seite, das Durcheinander nutzt die Hohepriesterin sich schützend vor ihre Helferinnen zu stellen und zwischen die Waffen der dreisten Soldaten.

„Was fällt euch ein? Wollt ihr den gerechten Zorn der Göttin auf euch ziehen, was?

Wehrlos kriechen die eben noch tobenden Männer nach hinten, rappeln sich auf, atmen verlegen durch und beginnen stotternd ihre eigentliche Botschaft vorzutragen:

„Der Herr der Sicherheit, Sardonius, hat uns befohlen, euch unverrichteter Dinge zum Palast zu bringen. Dort sollt ihr vor dem Tribunal des Minos peinlich befragt werden.“

Chanadaissa ist zu Tode erschrocken. Was kann das bedeuten? Was hat Archaikos vor? Aber den beiden zitternden Helden gegenüber will sie sich keine Blöße geben. So wendet sie sich scheinbar völlig ruhig Sarsa und Belursi zu, hilft ihnen auf, reicht ihnen ihre Gewänder, bevor sie sich mit ruhigster Stimme an Nemetos und Thortys wendet:

„Und dafür macht ihr solch einen Lärm und versündigt euch fast auch noch an meinen Priesterinnen!? Nicht dass auch ihr noch peinlich vor diesem Tribunal befragt werdet, ihr zügellosen Schwächlinge!“

22 Apr

Leseprobe # 3 Echos aus gelebtem Leben – Autobiographiesplitter

23 Echo das dreiundzwanzigste 11-03-16

Aus:  Wolfgang Herrndorf. Arbeit und Struktur:

W.H. „15.12.2010 16:37 Prof. Moskopp zitiert Schiller, Benn, Wittgenstein. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dies sei, so Prof. Moskopp, vermutlich zu plakativ (mot juste vergessen). Einigkeit mit Tom Lubbock, der Worte und Sprache verliert, und dennoch: „My thougths when I look at the world are vast, limitless and normal, same as they ever were.“

js – DO 16.12. 2010 14:40

Laura hatte auf dieser Seite des TG ein Zitat von Humboldt hingeschrieben:

Die Zeit ist nur ein leerer Raum, dem Begebenheiten, Gedanken und

Empfindungen erst Inhalt geben.

Und der alte Floh hat an diesem Tag einen zweiseitigen Eintrag in türkisfarbener Tinte verfasst: …Es ist der Tag (der Vortag, also der Tag, am dem W. H. seinen Prof. Moskopp-Eintrag verfasste), an dem er mit Nora per Zug nach Lübeck fährt, wo ihr Rigorosum um 13:00 Uhr stattfinden wird. Jetzt, wo er diesen langen und detaillierten Eintrag liest, kommen tatsächlich auch die Bilder wieder zurück; sicher etwas geschönt und mit Patina versehen, aber doch wohl im Bereich des Wahrhaftigen, tangential zumindest…

Fortsetzung am 12-03-16 16:12

Am 17.12.2010 15:43 schreibt W.H.: „Unangemeldeter Besuch eines jenseitsgewissen Christen, der mein Blog gelesen hat.“

Fast gleichzeitig steht im TG des pensionierten Flohs folgendes Zitat aus Jonathan Franzens FREIHEIT , S, 71 (weitere Verweise auf S. 72, 74, 104 und 105):

„Da sie sich an ihren Bewusstseinszustand während der ersten drei Jahre am College nicht erinnern kann, fürchtet die Autobiographin, dass sie sich einfach in keinem Zustand der Bewusstheit befand. Es kam ihr zwar so vor, als ob sie wach wäre, aber in Wirklichkeit muss sie geschlafwandelt sein.“

Der ironische Unterton in W.H.’s Eintrag zeigt unterschwellig seinen Unwillen: einmal gegen die Jenseitsgewissen und sicher auch gegen falsche Empathiker. Dazu passt auch gut der Eintrag von Laura auf der gleichen Seite wie das Franzen-Zitat (zu ihrem Geschenk gehörte eben nicht nur das leere Tagebuch, sondern eben auch viele Zitate über viele Seiten verteilt. Ein schönes Geschenk):

Wer nicht in die Welt passt, der ist immer nahe daran, sich selber zu

finden.“ (Hermann Hesse)

W.H.! Du hast dich ganz sicher gefunden – nicht zuletzt in deinen eigenen Texten!

22 Apr

Leseprobe # 2 Ausschnitt aus dem historischen Roman, zweiter Teil

Es geht nichts verloren, sagte schon Lukrez

Julianus spricht gerade mit Somythall über die letzten Unterrichtsstunden bei seinem wunderbaren Lehrer Philippus. Sie haben nicht mehr viel Zeit. Somythall wird in den nächsten Tagen aufbrechen, denn Rochwyn möchte sie noch vor Einbruch des Winters sicher nach Luxovium bringen. Dort gibt es weise Frauen, die ihr bei der Geburt helfen können. De rerum naturae. Somythall muss immer wieder schmunzeln, wenn sie ihm zuhört. Er ist so begeistert. So voller Lebensfreude. Da fällt ihr wieder ihre Großmutter ein: Ihr Gesicht, wenn sie ihr summend und mit strahlenden Augen alte Geschichten erzählt hatte. Mit einem wohlig wärmenden Kichern am Ende. Die Frauen, von denen die Großmutter da gesprochen hatte, waren auch so voller Lebensfreude, Liebeslust und Glücksgefühlen gewesen. Lukrez und die Urururgroßmutter ihre Großmutter müssen Freunde gewesen sein, denkt sie. Die strahlenden Gesichter, die sich Somythall dabei immer vorgestellt hatte, ähnelten dem von Julianus jetzt. Genau. Sie fühlen wohl das gleiche, denken in verwandten Bildern, träumen ähnliche Träume, strahlen die gleiche Wärme und Zuneigung aus wie er, jetzt.

Gibt es vielleicht geheime Töne und Energien jenseits von Zeit und Raum, die sie alle miteinander verbinden?

„Wie meinst du das, Julianus?“

Julianus ist begeistert. Dass Somythall so neugierig ist, macht ihn fast schwindlig vor Freude. Schade, dass die Sprache nur Wort für Wort das Gedachte herausbekommt. Lieber würde er alles, was er gerade denkt, auf einmal zu ihren Füßen legen. Mit ihr darauf eng umschlungen tanzen oder auch noch mehr. Nach mehreren Atemzügen und Liebe vollsten Blicken fährt er hastig fort:

Es hängt alles zusammen, das Größte mit dem kleinsten und umgekehrt, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen und Zukünftigen. Lukrez ist sogar der Meinung, dass der klingende und schwingende Kosmos mit all dem verbunden ist; es gehe nichts verloren. Auch von uns selbst nicht.

Denn alles, was zerfällt – bis zu den kleinsten Atomen – wird wieder neu zusammengesetzt. Und das Neue hat in seinem Gedächtnis und in seinem Körper das Ehemalige dabei. So sei Werden und Vergehen miteinander verschränkt und fest verknüpft für immer. Selbst die Götter unterliegen diesem Fluss der Dinge und Atome.“

Somythall kann es nicht fassen. Wovor sollte sie dann noch Angst haben müssen? Sie und Julianus bleiben für immer miteinander verbunden. Eine warme Welle voller Lebensfreude überschwemmt ihren aufgeregten Körper.

Die Götter auch? Wie schön, dann sind sie uns ja viel näher und verwandter als die meisten glauben. Deine Götter genauso wie die meinen. Oder?“

Julianus nickt nur. Wortlos sitzen sie auf der kühlen Marmorbank. Die Schriftrollen in den Nischen um sie herum scheinen auf einmal zu flüstern. Auch sie wollen ihre Geschichten erzählen, wollen – wenn auch nur sehr, sehr leise – mitteilen, dass sie alles hören und verstehen können, was um sie herum gesagt wird. Und dass es genau zu dem passt, was sie selbst zu sagen haben, schon so lange.

Dass bald eine Feuersbrunst sie noch leiser und kleiner werden lassen wird, ist ihnen völlig einerlei.

Jetzt ist wieder ein solcher Augenblick, der Verwandtes unbedingt fühlen lässt. Jetzt. Somythall und Julianus saugen mit ihrem Atem all das in sich auf, lassen es in sich Herberge finden, Frieden. Der junge Römer sucht die Hand der schwangeren fremden Frau. Die bunten Figuren auf den Wänden scheinen zu schmunzeln. Alles hat in diesem Augenblick seinen richtigen Platz, alles passt zusammen. Und die zwei jungen Menschen spüren es auch. Als wüchse ungefragt eine wunderbare Kraft in ihnen, als löste sich von ihnen jedwede Schwere. So kommt es ihnen vor. Ausgelöst durch ein Buch, das vor so langer Zeit schon geschrieben worden war. Von einem römischen Autor, von Lukrez, der sich wiederum eng verbunden fühlte mit Gleichgesinnten aus den längst vergessenen griechischen Welten.

Da öffnet sich die Tür. Die Abendsonne zeichnet den Körper des Eintretenden in scharfen Linien, sein Gesicht schattenumhüllt. Aber sie kennen diese Gestalt genau. Es ist Rochwyn. Er kommt, um Somythall abzuholen. Selbst der nahende Abschied verliert unversehens seine Schwere. Die beiden stehen gemeinsam auf, umarmen sich wortlos und lösen sich voneinander.