22 Apr

Leseprobe # 2 Ausschnitt aus dem historischen Roman, zweiter Teil

Es geht nichts verloren, sagte schon Lukrez

Julianus spricht gerade mit Somythall über die letzten Unterrichtsstunden bei seinem wunderbaren Lehrer Philippus. Sie haben nicht mehr viel Zeit. Somythall wird in den nächsten Tagen aufbrechen, denn Rochwyn möchte sie noch vor Einbruch des Winters sicher nach Luxovium bringen. Dort gibt es weise Frauen, die ihr bei der Geburt helfen können. De rerum naturae. Somythall muss immer wieder schmunzeln, wenn sie ihm zuhört. Er ist so begeistert. So voller Lebensfreude. Da fällt ihr wieder ihre Großmutter ein: Ihr Gesicht, wenn sie ihr summend und mit strahlenden Augen alte Geschichten erzählt hatte. Mit einem wohlig wärmenden Kichern am Ende. Die Frauen, von denen die Großmutter da gesprochen hatte, waren auch so voller Lebensfreude, Liebeslust und Glücksgefühlen gewesen. Lukrez und die Urururgroßmutter ihre Großmutter müssen Freunde gewesen sein, denkt sie. Die strahlenden Gesichter, die sich Somythall dabei immer vorgestellt hatte, ähnelten dem von Julianus jetzt. Genau. Sie fühlen wohl das gleiche, denken in verwandten Bildern, träumen ähnliche Träume, strahlen die gleiche Wärme und Zuneigung aus wie er, jetzt.

Gibt es vielleicht geheime Töne und Energien jenseits von Zeit und Raum, die sie alle miteinander verbinden?

„Wie meinst du das, Julianus?“

Julianus ist begeistert. Dass Somythall so neugierig ist, macht ihn fast schwindlig vor Freude. Schade, dass die Sprache nur Wort für Wort das Gedachte herausbekommt. Lieber würde er alles, was er gerade denkt, auf einmal zu ihren Füßen legen. Mit ihr darauf eng umschlungen tanzen oder auch noch mehr. Nach mehreren Atemzügen und Liebe vollsten Blicken fährt er hastig fort:

Es hängt alles zusammen, das Größte mit dem kleinsten und umgekehrt, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen und Zukünftigen. Lukrez ist sogar der Meinung, dass der klingende und schwingende Kosmos mit all dem verbunden ist; es gehe nichts verloren. Auch von uns selbst nicht.

Denn alles, was zerfällt – bis zu den kleinsten Atomen – wird wieder neu zusammengesetzt. Und das Neue hat in seinem Gedächtnis und in seinem Körper das Ehemalige dabei. So sei Werden und Vergehen miteinander verschränkt und fest verknüpft für immer. Selbst die Götter unterliegen diesem Fluss der Dinge und Atome.“

Somythall kann es nicht fassen. Wovor sollte sie dann noch Angst haben müssen? Sie und Julianus bleiben für immer miteinander verbunden. Eine warme Welle voller Lebensfreude überschwemmt ihren aufgeregten Körper.

Die Götter auch? Wie schön, dann sind sie uns ja viel näher und verwandter als die meisten glauben. Deine Götter genauso wie die meinen. Oder?“

Julianus nickt nur. Wortlos sitzen sie auf der kühlen Marmorbank. Die Schriftrollen in den Nischen um sie herum scheinen auf einmal zu flüstern. Auch sie wollen ihre Geschichten erzählen, wollen – wenn auch nur sehr, sehr leise – mitteilen, dass sie alles hören und verstehen können, was um sie herum gesagt wird. Und dass es genau zu dem passt, was sie selbst zu sagen haben, schon so lange.

Dass bald eine Feuersbrunst sie noch leiser und kleiner werden lassen wird, ist ihnen völlig einerlei.

Jetzt ist wieder ein solcher Augenblick, der Verwandtes unbedingt fühlen lässt. Jetzt. Somythall und Julianus saugen mit ihrem Atem all das in sich auf, lassen es in sich Herberge finden, Frieden. Der junge Römer sucht die Hand der schwangeren fremden Frau. Die bunten Figuren auf den Wänden scheinen zu schmunzeln. Alles hat in diesem Augenblick seinen richtigen Platz, alles passt zusammen. Und die zwei jungen Menschen spüren es auch. Als wüchse ungefragt eine wunderbare Kraft in ihnen, als löste sich von ihnen jedwede Schwere. So kommt es ihnen vor. Ausgelöst durch ein Buch, das vor so langer Zeit schon geschrieben worden war. Von einem römischen Autor, von Lukrez, der sich wiederum eng verbunden fühlte mit Gleichgesinnten aus den längst vergessenen griechischen Welten.

Da öffnet sich die Tür. Die Abendsonne zeichnet den Körper des Eintretenden in scharfen Linien, sein Gesicht schattenumhüllt. Aber sie kennen diese Gestalt genau. Es ist Rochwyn. Er kommt, um Somythall abzuholen. Selbst der nahende Abschied verliert unversehens seine Schwere. Die beiden stehen gemeinsam auf, umarmen sich wortlos und lösen sich voneinander.

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