25 Mai

Europa – Meditation # 200

Und alles drängt zum Alt Vertrauten hin. Ist es nicht verwunderlich?

Eben erst riefen die Überlebenden in Mitteleuropa:

NIE WIEDER KRIEG!

Aber schon zehn Jahre später raschelt es im Medienwald: WIEDERBEWAFFNUNG!

Denn bildgewaltig war ein neues Weltbild entstanden: Vor oder hinter dem

EISERNEN VORHANG!

Das Zeitalter des Kalten Krieges und des Antikommunismus war eingeläutet worden. Bald ein Selbstläufer in allen guten Geschichtsbüchern. Und die sogenannte Cuba-Krise half beiden Seiten ordentlich mit, leidenschaftlich an diesem Weltbild zu hängen und weiter zu malen in grellen Farben – der

OST-WEST-KONFLIKT

war zwar ein schlichtes, aber darum umso einprägsameres Bild von der Welt. Unsummen versenkten die Volkswirtschaften in Ost und West deshalb in sogenannte „überlebensnotwendige Investitionen“ im Verteidigungs- haushalt. Viele Jahre, viele.

Dann – wer hätte das gedacht – fiel der eiserne Vorhang einfach so in sich zusammen, schleunigst skizzierte man nun ein großes Bild von der

E I N E N W E L T

Für einen Moment schien es vielen naheliegend zu glauben, dass mehr Wachstum – weltweit, versteht sich – und mehr Konsum d a s Weltkonzept sei, das der größtmöglichen Zahl das größtmögliche Glück bescheren würde

Und gleich war auch die neue Formel gefunden, die in einem Wort in überwältigender Verdichtung das auf den Punkt bringt, was Gegenwart und Zukunft nun ausmachen würde: Wir leben in einem neuen Zeitalter, dem

A N T H R O P O Z Ä N

Dass aber gleichzeitig der Hunger, die Kriege, die Vernichtung von so vielen Arten weltweit die optimistischen Prognosen ad absurdum führen könnten und die Lebensbedingungen der Menschen weltweit schlechter und schlechter werden, lässt nun viele rückwärts schauen, als könnte der Egoismus von Einzelstaaten sicher stellen, dass die Folgen nur die anderen, die natürlich immer auch gleichzeitig die Bösen sind, tragen werden. Und in Europa wird weiter ein vereintes Europa beschworen, dass aber auch nur mit alt vertrauten Mustern alten Wein aus neuen Schläuchen keltern will.

Dann kommt wie aus heiterstem Himmel ein neuer unbekannter Gegner an:

D E R C O R O N A – V I R U S

Und über Nacht gilt einfach nicht mehr, was bis dahin eiserne Gesetze waren: Die SCHWARZE NULL, die AUTOINDUSTRIE, die GLOBALE VERNETZUNG.

Und man schwärmt von einem MARSHALL-PLAN, landesweit, europaweit, weltweit. Die Größenordnung ist längst nicht mehr vorstellbar, schon deshalb muss der Plan der beste aller Welten sein. Und das neue Feindbild wird auch schon im Großformat auf dem Weltmarkt angeboten: C H I N A .

22 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 36

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 36

S. 272 – „Diese ständige Konkurrenz zwischen Vätern und Söhnen, diese ewigen Geschichten von Erfolg und Misserfolg.“

(Der Floh wollte seinem Vater wohl vorführen, dass es jenseits von materiellem Erfolg auch einen ideellen Erfolg geben kann. Wie soll er sich sonst erklären, dass es ihm stets einerlei war, wie viel er verdiente. Immer hatte er das Gefühl, dass es bei weitem ausreichte. Er brauchte nie „viel“. Es reichte für die Familie. Auch im Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen hatte der Floh immer das Gefühl, dass deren Unzufriedenheit eher peinlich war: Waren sie doch alle abgesichert und versorgt. Aber seine Zunft kam ihm sehr oft vor wie eine Rotte von Erbsenzählern, die mit der Abhängigkeit, in der sie stehen, einfach nicht gelassen umgehen konnten. Also musste immer der Arbeitgeber – das Land – herhalten für schlechte Laune.

Der Floh sah sich nicht als Konkurrent. Sein Ehrgeiz richtete sich vorrangig auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler. Deren Wertschätzung war ihm wichtig. Und die bekam er durch sein Engagement. Punkt. Und das ist unbezahlbar.

Jetzt hofft er als der alte Floh natürlich, dass seine eigenen Kinder diesen alten Konkurrenz-Schuh einfach nicht anziehen, sondern wissen, dass ihr Vater froh ist, wenn ihnen ihre Arbeit Freude bereitet. Zahlen dahinter sollten immer bloß sekundär bleiben.

Seine eigene Karriere kommt ihm sowieso vor wie eine sehr zufällige und von ihm nicht wirklich betriebene Veränderung, die sich nach und nach und einfach so ergab. Zufälle spielten dabei wohl die Hauptrolle. Er hat viel Glück gehabt. Die Menschen, die ihn gefördert haben, müssen ihn für fähig gehalten haben. Er selbst war lange viel zu stolz, sich um seine Karriere zu kümmern. Meint er zumindest heute. Aber auch das ist – wie alle Geschichten – ein Narrativ, wie man heute so zu sagen pflegt, das sich fleißig weiter entwickelt, sich gerne verselbständigt und eigensinnige Wege hinter dem Rücken des Erzählers selbst geht. Vieles wird eben so erzählt, weil der Erzähler gerne möchte, dass es so eine Erzählung sei, die plausibel sein und den eigenen Blickwinkel angenehm bedienen soll. Wer sollte den Erzähler daran hindern können? So spinnen die Erdlinge alle fleißig an ihrem eigenen Narrativ – es soll bunt, originell und erfolgreich sein, klar. Misserfolge haben da immer nur die anderen, die missgünstigen Verlierer. Klar.

Also bleibt die Spannung zwischen Vätern und Söhnen stets bestehen. Die Individualität kann sich nur in Abgrenzung zum anderen definieren. Darüber muss man aber nicht streiten. Die Liebe bleibt davon sowieso unberührt. Doch Spannung belebt die Lebensreise ungemein. Irrwege gehören mit zum Programm. Punkt.)

22 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 35

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 35

S. 272/3 – „So sehr sich mein Vater später auch darüber freute, dass seine Kinder studierten, Dissertationen schrieben, die er selbst nicht geschrieben hatte, akademische Titel erwarben , die er selbst nicht hatte erwerben können – es muss schwierig gewesen sein. Unsere Erfolge, auf die er so stolz war, müssen ihn umso lebhafter an seine eigene Geschichte erinnert haben, an die Wege, die ihm verschlossen geblieben waren und die er, wie ich jetzt wusste, aus irgendeinem Grund ausgeschlagen hatte.“

(Heute ist Jonathans 32. Geburtstag. Der alte Floh kann sich nur freuen, was die Kinder aus eigenem Vermögen aus sich gemacht haben. Er, als der Vater, kann nur staunen. Es ist wie mit den Lehrern: Die Wirkung, die der eigene Einfluss auf die Kinder ausgeübt hat, ist im Nachhinein nicht offensichtlich, erklärbar. Er weiß nur, dass er immer wie der Fels in der Brandung sein wollte. Ohne Worte, einfach schützend und fördernd da sein. Und natürlich auch Vorbild. Natürlich? Jedenfalls werden die Kinder durch seine Art zu sprechen, zu agieren Bilder präsentiert bekommen haben, an denen sie sich abarbeiten mussten. Genauso wie es der kleine Floh mit seinem eigenen Vater erlebt hat. Sein Widerspruch hat ihn zu dem gemacht, der er wurde. Im Ergebnis erkennt er den Vater mehr wieder, als er es ursprünglich für möglich gehalten hat. Aber wie sein Vater den Werdegang seines jüngsten Sohnes erlebt hat, das bleibt weiter im Dunkeln. Es wurde nie thematisiert. Weder direkt, noch indirekt. War er stolz, war er froh, war er gekränkt, verletzt? Wie hat er seine eigene, an Hunger und Armut vorbei driftende Kindheit (1906) in Bayern verarbeitet? Er konnte sehr wohl stolz auf sich und sein Lebenswerk sein. Er hat seiner Familie ein Leben in gesichertem Wohlstand ermöglicht. Wortkarg und streng, aber immer fürsorglich und weitblickend. Wie sehr muss es ihn da gekränkt haben, dass sein jüngster so herablassend damit umging? Ist nicht sein eigener, privilegierter Lebensabend nur denkbar vor dem Hintergrund dessen, was sein Vater seinen Kindern hinterlassen hat? Und das nicht nur materiell. Nein, auch seine klare, sparsame und bescheidene Lebensweise hat den Floh maßgeblich mit geprägt. Fürwahr! Jedes Mal, wenn er zum Grab der Eltern geht, leistet er Abbitte, dankt er. Eine Haltung, die dem Floh als jungem Mann völlig abging. Es gab einfach keinen Diskurs im Hause Seiler. Selbst Illa hat später wenig klärendes nachreichen können, wollen. Ein grauer Schleier des Unausgesprochenen lag und liegt über dem Leben der Eltern – wie haben sie sich kennen und lieben gelernt? Wie haben sie die Ablehnung der Familie Losem – Illas Eltern – verarbeitet? Was ist aus den Träumen der begabten Sängerin geworden? Was verbarg sich hinter der Eifersucht des erfolgreichen Fabrikanten? Warum wollte sie ihn wieder verlassen? Was hat sie getrieben? Wie sehr hat der „Ruf“ maßgeblich zum Ausharren beigetragen: Was denken die „Leute“? Stolz waren sie beide. Zugeständnisse mussten sie beide machen. Wer war der stärkere?)