Leseprobe – Fabeln – erzählt von der kleinen Fee # 46
Der achtundzwanzig hufige Pferdefüsler betritt die Bühne.
Emilia sitzt immer noch auf ihrem weißen Klavierstuhl. In der Hand hält sie immer noch das große und schwere alte Buch. Sie hat gerade die Geschichte vom verzauberten Zauberer vorgelesen. Jetzt schaut sie voller Erwartung ihre Freunde an. Die wissen auch nicht, was mit dem Geheimnis und dem Ende Oktober gemeint sein könnte. Der Buntspecht pickt nervös in seinem Gefieder. Das Rotkehlchen ist ganz blass um den kleinen, spitzen Schnabel. Und die drei Eichhörnchen zittern mit ihren Schwänzen um die Wette.
Da öffnet sich quietschend und sehr, sehr langsam die hohe Saaltür zwischen zwei riesigen Spiegeln. Der Raum, in den nun unsere Freunde zusammen mit Emilia erschrocken blicken, liegt im Dunkeln. Aber mitten in diesem Dunkel blinken zwei große, große glänzende Augen. Langsam, ganz langsam kommen sie näher, werden größer, glänzen heller, bunter. Die Lichter der Kerzen im Saal spiegeln sich darin tausendfach. Ob das vielleicht der Drache aus dem Buch ist, fragt sich fast atemlos Emilia. Ihre Freunde hüpfen und laufen blitzschnell zu ihr hin. Sie haben Angst. Große Angst. Wenn der Drache sie nun alle frisst? Oder wenn er Feuer speit? Jetzt bemerken sie auch ein vielstimmiges Klacken, als die Augen näher kommen. Und dann machen sie selbst große Augen: Denn diese Glitzeraugen stecken in einem großen Kopf und der große Kopf sitzt auf einem noch größeren Körper, der von vielen, vielen Beinen getragen wird.
„Ach so“, platzt es jetzt aus Emilia heraus, „ach so, das ist doch der achtundzwanzig hufige Pferdefüsler, dem dieses Schloss gehört!“
Unsere Freunde können es gar nicht fassen. Achtundzwanzig Hufe, also achtundzwanzig Beine! Da trabt der Pferdefüsler aber auch schon ganz in den Saal, dreht eine Runde vor ihnen, so dass sie ihn in seiner vollen Länge mit all seinen Beinen bestaunen können. Dann lässt er sich gemächlich nieder. Erst ganz hinten, dann Bein nach Bein weiter nach vorne. Jetzt dreht er seinen Kopf langsam in ihre Richtung, nickt gnädig und fängt dann auch noch mit tiefer Stimme zu sprechen an:
„Schön, schön. ÄH, ich meine, schön, dass ihr hier auf mich gewartet habt. Ich habe mich etwas verspätet, weil, ja, warum eigentlich?“ Der Pferdefüsler wackelt bedenklich mit seinem großen Pferdekopf, aber die Antwort auf seine Frage will ihm einfach nicht einfallen. Eine peinliche Stille entsteht. Fast kommen ihm die Tränen. Schnell schiebt er seine großen Augenlider über seine bunten Glitzeraugen und seufzt ziemlich vernehmlich. Das Rotkehlchen piept Emilia ganz, ganz leise und ganz aufgeregt etwas ins Ohr:
„Mensch, so hilf ihm doch! Siehst du denn nicht, wie verlegen der ist?“
„Ja, schon, klar, seh ich natürlich, ich bin doch nicht blind. Aber woher soll ich denn wissen, warum der sich verspätet hat?“
„Und woher weißt du denn, wer er ist und dass er der Schlossherr ist?“
„Gute Frage, gute Frage, liebes Rotkehlchen, gute Frage!“