19 Jun

Leseprobe – Fabeln – erzählt von der kleinen Fee # 46

Der achtundzwanzig hufige Pferdefüsler betritt die Bühne.

Emilia sitzt immer noch auf ihrem weißen Klavierstuhl. In der Hand hält sie immer noch das große und schwere alte Buch. Sie hat gerade die Geschichte vom verzauberten Zauberer vorgelesen. Jetzt schaut sie voller Erwartung ihre Freunde an. Die wissen auch nicht, was mit dem Geheimnis und dem Ende Oktober gemeint sein könnte. Der Buntspecht pickt nervös in seinem Gefieder. Das Rotkehlchen ist ganz blass um den kleinen, spitzen Schnabel. Und die drei Eichhörnchen zittern mit ihren Schwänzen um die Wette.

Da öffnet sich quietschend und sehr, sehr langsam die hohe Saaltür zwischen zwei riesigen Spiegeln. Der Raum, in den nun unsere Freunde zusammen mit Emilia erschrocken blicken, liegt im Dunkeln. Aber mitten in diesem Dunkel blinken zwei große, große glänzende Augen. Langsam, ganz langsam kommen sie näher, werden größer, glänzen heller, bunter. Die Lichter der Kerzen im Saal spiegeln sich darin tausendfach. Ob das vielleicht der Drache aus dem Buch ist, fragt sich fast atemlos Emilia. Ihre Freunde hüpfen und laufen blitzschnell zu ihr hin. Sie haben Angst. Große Angst. Wenn der Drache sie nun alle frisst? Oder wenn er Feuer speit? Jetzt bemerken sie auch ein vielstimmiges Klacken, als die Augen näher kommen. Und dann machen sie selbst große Augen: Denn diese Glitzeraugen stecken in einem großen Kopf und der große Kopf sitzt auf einem noch größeren Körper, der von vielen, vielen Beinen getragen wird.

„Ach so“, platzt es jetzt aus Emilia heraus, „ach so, das ist doch der achtundzwanzig hufige Pferdefüsler, dem dieses Schloss gehört!“

Unsere Freunde können es gar nicht fassen. Achtundzwanzig Hufe, also achtundzwanzig Beine! Da trabt der Pferdefüsler aber auch schon ganz in den Saal, dreht eine Runde vor ihnen, so dass sie ihn in seiner vollen Länge mit all seinen Beinen bestaunen können. Dann lässt er sich gemächlich nieder. Erst ganz hinten, dann Bein nach Bein weiter nach vorne. Jetzt dreht er seinen Kopf langsam in ihre Richtung, nickt gnädig und fängt dann auch noch mit tiefer Stimme zu sprechen an:

„Schön, schön. ÄH, ich meine, schön, dass ihr hier auf mich gewartet habt. Ich habe mich etwas verspätet, weil, ja, warum eigentlich?“ Der Pferdefüsler wackelt bedenklich mit seinem großen Pferdekopf, aber die Antwort auf seine Frage will ihm einfach nicht einfallen. Eine peinliche Stille entsteht. Fast kommen ihm die Tränen. Schnell schiebt er seine großen Augenlider über seine bunten Glitzeraugen und seufzt ziemlich vernehmlich. Das Rotkehlchen piept Emilia ganz, ganz leise und ganz aufgeregt etwas ins Ohr:

„Mensch, so hilf ihm doch! Siehst du denn nicht, wie verlegen der ist?“

„Ja, schon, klar, seh ich natürlich, ich bin doch nicht blind. Aber woher soll ich denn wissen, warum der sich verspätet hat?“

„Und woher weißt du denn, wer er ist und dass er der Schlossherr ist?“

„Gute Frage, gute Frage, liebes Rotkehlchen, gute Frage!“

14 Jun

Leseprobe – Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 41

Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

S. 333 – „Meine Geschwister und ich schüttelten nur den Kopf, wenn wir das Wort stabilisieren hörten, mussten nicht einmal aussprechen, was wir dachten: Dass er genau das immer befürchtet hatte, dass er nicht auf diesem niedrigen Niveau dahin vegitieren wollte, eher sollten wir den Stecker ziehen.“

(Dem alten Floh geht es genauso: sein treuester Bundesgenosse ein Leben lang, sein Körper, beginnt langsam müde zu werden. Zusammen mit Salome will er bald möglichst eine Patienten-Verfügung verschriftlichen, damit genau das nicht passiert: Stabilisierungsmaßnahmen um ihrer selbst willen, nicht aber zum Wohle des alten Flohs, der in solchen medizinischen Maßnahmen nicht das sehen kann, was sie wohlwollend meinen: Das Beste für den Patienten. Nicht nur will er den Kindern zur Bürde werden, nein, er möchte auch selber solches nicht erleben müssen.)

336 – „Ein Vater schafft seinen Sohn aus seinem Fleisch und Blut und aus seinem Geist und prägt ihn dann mit seinen Vorstellungen und Träumen, auch mit seinen Brutalitäten und Misserfolgen. Doch der Sohn, auch wenn er von seinem Vater ist, kann nicht alles über seinen Vater wissen, weil der Vater vor ihm da ist. Immer ist der Vater schon viel länger auf der Welt als der Sohn, das kann der Sohn nie aufholen, er wird nie alles wissen können. Kein Wunder, dass die Griechen glaubten, nur wenige Söhne könnten es mit den Vätern aufnehmen. Die meisten sind ihnen unterlegen, nur sehr wenige übertreffen sie. Es geht nicht um Wert, sondern um Kenntnis. Der Vater kennt den Sohn, aber der Sohn wird den Vater nie restlos kennen.“

(Damit kann der alte Floh wenig anfangen: Zumal sein Vater den zweiten Sohn kaum gekannt hat, genau wie der Sohn den Vater nicht. Und wie hat der ersten Sohn, Alfred, sein Halbbruder, unter diesem Vater gelitten! Sie haben gewissermaßen beide verpasst sich gegenseitig kennenzulernen. Wie wird es da seinen Söhnen gehen? Was wissen und was denken die beiden, David und Jonathan, von ihm? Sicher haben sie mehr, viel mehr erlebt und erfahren mit ihrem Vater als der mit seinem Vater. Aber die Wahrnehmungen bleiben natürlich Wahrnehmungen. Und je öfter bestimmte Geschichten erzählt werden, umso mehr werden sie geglaubt. Das ist das Geheimnis von jedem Narrativ – privat wie politisch. Und damit seine Kinder wenigstens kleine Korrekturen ihrer eigenen Vater-Wahrnehmungen vornehmen können (so sie wollen), liefert er ihnen mit diesen autobiographischen Blättern und den vielen Tagebüchern zumindest Material, das dann aber im Lesen wieder zu einem Teil ihrer eigenen Wahrnehmungen werden wird.)

S. 338 – „“Hatte Daddy denn nicht immer gesagt: Zieht einfach den Stecker raus, ich will nicht in einem Pflegeheim enden und im Rollstuhl herumgegeschoben werden?“

14 Jun

Europa – Meditation # 204

Eine neue Dankmal-Kultur in Europa?

Hat es uns nicht alle hier in Europa verwundert, dass altvertraute Routinen über Nacht ausgesetzt und über Wochen hin vermisst wurden? Dass sogar die sogenannten Big Player der europäischen Autoindustrie still standen? Und war in den Medien nicht unisono zu lesen und zu hören und zu sehen, dass danach nichts mehr so sein würde wie vorher?

Und jetzt?

Die Pandemie hat scheinbar ihren Horror verloren, der ach so anpassungsfähige homo sapiens sapiens (zweimal genäht hält besser!) möchte wohl das Gruseln möglichst schnell hinter sich lassen und wieder vergnügt nach vorne schauen. Und da er auf Technik so große Stücke hält, malt er gerade eifrig am Bild des wieder startenden Motors, der eben nur einen kurzen Aussetzer hatte.

Also einfach da weitermachen, wo man ungewollt anhalten musste?

Chancen und Möglichkeiten, die von einigen Optimisten in der Krise euphorisch beschworen wurden, sollen bitte schnell in die zweite Reihe treten, denn Zahlen und Tabellen, auf die wir wochenlang starten wie auf einen Fetisch, sagen scheinbar neues Unheil voraus (nur sind es jetzt nicht die Prognosen der Virologen, sondern die der Ökonomen): Wenn wir nicht sofort alles daran setzen, den liegen gebliebenen Laster mit aller Macht wieder flott zu machen, werden eben nicht nur die Kurse an den Börsen weiter in den Keller gehen, sondern auch die Arbeitnehmer: Ein riesiges Arbeitslosenheer wird als Drohung an die Wand gemalt.

Das Anthropozän fordert weiter seinen Tribut. Man könnte sich wieder ordentlich gruseln.

Doch da kommt uns der Alltag mit all seinen Schrecken zu Hilfe. Rassismus heißt das Ablenkungsmanöver, das nun global alle Aufmerksamkeit absorbiert. Und das Umstürzen von Denkmälern als scheinbar starke Aktion wider die Ungleichheit in modernen Demokratien.

Und wieder wird die Welt in die Guten und die Bösen, die Schwarzen und die Weißen eingeteilt, die Friedfertigen und die Gewalttätigen. Dabei wäre die Mitte der neue Weg aus den Krisen heraus.

Anstatt Denkmäler zu katalogisieren in solche, die bleiben dürfen und solche, die umgestürzt werden müssen, sollten sie zu sinnfälligen Mittelpunkten geistiger Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte werden; wie bei einem Puzzle könnten nun die, die nicht einverstanden sind, ihren Stein des Anstoßes dazu legen und so das Denkmal historisch wachsen zu lassen – als Spiegelbild eines sich stetig wandelnden Wahrnehmungsschwerpunkts, der gerne darauf verzichtet, in plattem Schwarz/Weiß oder Richtig/Falsch oder Gut/Schlecht-Mustern mutwillig die Anstrengungen der Vorfahren ins einseitige Licht zu stellen. Was könnte das für ein kreatives Geschehen sein, in dem immer wieder neu nachgedacht wird und neu das eigene Wahrnehmen überprüft würde: homo sapiens…