06 Okt

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 52 – Leseprobe

Hölderlin: Da ich ein Knabe war… (1794 – 1796)

…Oh all ihr treuen

Freundlichen Götter!

Dass ihr wüsstet,

Wie euch meine Seele geliebt!

Zwar damals rief ich noch nicht

Euch mit Nahmen, auch ihr

Nannten mich nie, wie die Menschen sich nennen,

Als kennten sie sich.

Doch kannt‘ ich euch besser,

Als ich je die Menschen gekannt,

Ich verstand die Stille des Aethers

Der Menschen Worte verstand ich nie.

Mich erzog der Wohllaut

Des säuselnden Hains

Und lieben lernt‘ ich

Unter den Blumen.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

„der Menschen Worte verstand ich nie“ – eine Erfahrung, die auch der kleine Floh machte. Jetzt, rückblickend und viel lesend und schreibend, wird ihm deutlich, wie ungefähr und willkürlich Worte, Sätze, Meinungen sind, die sich auf Gedächtnisbilder stützen, die selbst schon wieder überarbeitet und geschönt sein können – oder wohl auch schon sind…

Die Genauigkeit, mit der z. B. ein Richard Russo Gedankenspiele in „Diese alte Sehnsucht“ (The Old Cape Magic/ 2009) vorführt, als wären sie wahre Wortketten, die genau bebildern, was jemand denkt, fühlt, wünscht, zweifelt, träumt, lässt ihn nur leise schmunzeln. Vielleicht auch ein Grund, warum seine eigenen Texte (Historischer Roman I und II, blog-Texte, AbB-Texte) so oberflächlich wirken, als fehlte ihnen Tiefe, Genauigkeit, Strenge.

Ist es nicht viel eher so, dass er solcher Strenge einfach misstraut, das abzuliefern, was sie vorgeben liefern zu können: Abbilder von Außen- und Innenwelten? Allein, wenn er jetzt nur die Stichwortliste zu den zurückliegenden Sommertagen liest, weiß er genau, dass beim Auffüllen mit mehr Text mehr Fälschungen entstehen, als ihm lieb ist. So sehr sie ihm auch gefallen mögen. (Dabei erinnert er sich auch an die Unterrichtseinheiten zum Roman von Nicolas Born „Die Fälschung“ aus dem Jahr 1979 – intuitiv war ihm damals wohl schon klar, dass dieser Begriff ihm sehr sympathisch war, weil er die Suche nach Wahrheit mit einschließt)

Oder wenn er heute in der SZ ein Foto sieht mit dem Bild einer Frau, das er spontan für brauchbar hält, um ein verloren gegangenes Bild einer Freundin wieder zu finden. Selbstbetrug – das Alltagsgeschäft eines jeden von uns. Könnte das nicht den eifernden Umgang mit anderen Meinungen und Einschätzungen nachhaltig erleichtern, dem Recht Haben Wollen das Wasser abgraben?

Seine Antwort auf Hölderlins Gedicht am 6. Oktober 2020

Damals, ja damals schon…

Oh, ihr leisen Geister überall!

Wie wenig verstand ich einst

Euer stilles Werben, wiewohl ich

doch so zufrieden war mit euch

und euren liebenswerten Boten.

Der Jubelsang der Amsel im August,

Der süße Duft von Staub und Blüten

Der wohltuende Schatten unterm Kirschbaum

Da war jedes Wort zu viel, zu fremd,

Mein Fühlen zu offenbaren.

So verstand ich der Menschen Wort wohl nie.

Wozu auch. War ihnen doch nicht zu trauen.

Der kleine Mann spürte den hohlen Klang

Solcher Töne nur zu gut. Lasst mich allein!

Ich lernte still der Stille Botschaften zu lieben,

Genauso wie des Windes sanftes Säuseln

Und wogende Kornfelder trösteten

Das einsame Kind huldvoll und oft.

Kraft konnte da wachsen noch und noch.

06 Okt

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 106

Zeus begegnet Europa am Nil.

Phoinix, der Bruder Europas, der nach Theben am Nil gereist war, sitzt am Ufer des Flusses und blinzelt auf den träge dahin fließenden Strom. Ein großes Sonnensegel schützt ihn vor dem grellen Licht, das alles in ein blendendes Flimmerbild verflüssigt. Wer von uns dreien wird bei der Suche nach der Schwester, der wilden, erfolgreich sein, fragt er sich müde. Wie schnell doch die Segelboote lautlos über das Wasser huschen! Oder bilde ich mir das nur ein? Phoinix dämmert nach und nach weg aus dem, was ihm Augen, Ohren und Nase gerade anbieten.

„Ein Bild der Friedens und der Lebensfreude, stimmt‘s?“

Phoinix hört die säuselnde Stimme neben sich, nickt und denkt, das träume ich jetzt sicher. Und so dreht er sich leicht zur Seite, um den Fremden zu taxieren: Bauer, Hirte, Priester, Nomade? Was er sieht, erschwert ihm eine klare Antwort. Aber er ist auch zu müde. Dann hört er sich selbst sprechen:

„Europa, meine wilde Schwester, zieht den Schatten im Tempel vor. Sonst aber ist sie auch voller Lebensfreude.“

Zeus erschrickt. Was? Europa hier im Tempel? Wie kann das sein?

„So, so, im Tempel.“ Zeus versucht so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Du hast sie also gefunden?“

„Gefunden? Ich habe sie gar nicht gesucht. Wir sind zusammen unterwegs. Wir wollen gemeinsam die Tempelstadt anschauen. Unser Vater, König Agenor, hat immer so davon geschwärmt.“

Phoinix wundert sich, was er für Sätze aus sich heraus tönen lässt. Wo die wohl herkommen? Egal. Scheinen allemal zu passen, denkt er kichernd. Aber Zeus ist beeindruckt.

„Sehr klug von ihr, in den Tempel zu gehen. Hier draußen ist es auch wirklich viel zu heiß – oder?“

Hoffentlich merkt Phoinix nicht, wie aufgeregt ich bin, denkt Zeus nervös.

„Och, hier unter dem Sonnensegel geht‘s ganz gut, find‘ ich. Wenn du willst, kannst du ja auch in den Tempel dahinten gehen und ihr sagen, dass wir weiter wollen.“

Zeus findet, dass sei ein richtig guter Vorschlag. Er erhebt sich schnell, winkt noch mit der Hand und läuft durch die Flimmerwelt Richtung Tempel.

Phoinix, der jetzt endlich die Augen öffnet, dreht sich um, um dem Fremden nachzusehen. Wer das wohl war?

Vorsichtshalber rappelt er sich stöhnend hoch, packt sein Reisebündel und macht sich aus dem Staube. Man kann ja nie wissen, wie so jemand reagiert, wenn er sich betrogen sieht.

Phoinix lacht leise vor sich hin. Oder war es doch nur ein Traum?

Am Wasser will gerade ein schneller Segler ablegen. Ohne nachzudenken springt er noch schnell an Bord. Ob Europa doch eher in Delos oder in Piräus gelandet ist?

03 Okt

Europa – Meditation # 226

Wir sitzen alle im selben Boot – aber mit verschiedenen

Aufgaben und Blickwinkeln dabei,

sagt die weitsichtige Europa. Sie könnte Recht haben.

Die Gunst der Stunde ist geradezu offensichtlich: Nachdem das alte Weltbild von den zwei Systemen im Nichts verschwand, folgte ihm nicht viel später das hybride Gemälde von der Einen Welt – den sogenannten Clash der Systeme und die Folgen waren wohl eher vollmundige Kopfgeburten, weiter nichts.

Und jetzt?

Jetzt sitzen die Europäer vor einem globalen Scherbenhaufen, den sie selbst nicht unmaßgeblich mit bewerkstelligt haben in den letzten Jahrhunderten. Doch statt sich vom eigenen Irrweg gerne zu verabschieden und zu neuen Ufern aufzubrechen, möchten die meisten in Europa – und nicht zuletzt in Mitteleuropa – einfach so weiter machen. Gut vielleicht ein bisschen weniger schnell, vielleicht ein bisschen weniger viel, aber insgesamt doch weiter so.

Und worin bestünde denn die alternative Gunst der Stunde?

Im Loslassen. Im einfach einmal Hinschauen auf Natur und Leben. In welcher Vielfalt sie groß und klein, alt und jung Lebensgenuss erleben lässt, was im Jetzt an Reichtum steckt.

Die zivilen wie militärischen Opfer der letzten Jahrhunderte haben so viele Begabungen und Bereicherungen verunmöglicht, dass ein Weiter So einfach nur dumm wäre. Wir Europäer haben sie uns schön geredet, notwendig, weil Fortschritt „eben“ auch Opfer fordert. Wie leicht ist von den gut Lebenden solch ein furchtbarer Satz sagbar, wie leicht! Aber dahinter lauern wie immer die Angst, die Scham, das Schuldgefühl. Deshalb die Hektik, dieses nach vorne Preschen, dieses Atemlose. Denn in der Ruhe läge ja auch die Möglichkeit des Nach-Denkens, des Einsehens des eigenen Irrtums.

Während sich weltweit die „Großen“, zu denen die Europäer nun nicht mehr zählen, gegenseitig bedrohen und wie kleine Kinder mit Schmutz bewerfen, wäre für die erschrockenen Europäer die Gunst der Stunde eben das Abschied nehmen von Hegemonie-Phantasien, das sich Besinnen auf die geographische und klimatische Begünstigung dieses kleinen Erdteils, der auch Flüchtlingen vom reichen Tisch genügend abgeben kann, damit auch sie mithelfen lernen, der Natur und dem eigenen Leben das zuzugestehen, was natürlich ist: Arbeit, Planung, Geduld, Solidarität. Ehrlichkeit.

Mit dem Zerrbild eines macht- und geldgierigen Mannes an der Spitze eines Landes, in das die Europäer einst selber flohen, und dem Selbstbild eines Landes vor Augen, dem trotz aller Abstürze nun ein versöhnendes Miteinander in Mitteleuropa möglich sein sollte, kann es doch nicht so abwegig sein, sich von alten Vorbildern zu trennen und humanere an deren Stelle zu setzen.