07 Nov

Europa – Meditation # 232

Ein historischer Moment des Umbruchs?

(Gedanken entlang der Lektüre von Philipp Bloms „Das große Welttheater“)

Was für eine Frage! Als wären wir Archimedes, der den Punkt im Äther gefunden hat, um die Welt aus den Angeln zu heben. Dabei sind wir doch weiter nichts anderes als Laien-Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Wir wollen es nur nicht zugeben.

Jetzt, da vier Jahre Jahrmarkt in den USA vorbei sind, sollten wir Europäer nicht einfach so tun, als wäre aller wieder gut, weil unser großer Freund uns erneut die Hand reicht. Gerade wegen der Pandemie gilt es, sich völlig neu „aufzustellen“, wie man das ja heutzutage blumig zu umschreiben hat.

Nutzen wir dazu einfach einmal die Gedanken von Philipp Blom aus seinem neuen Buch „Das große Welttheater“.

Früher, im alten Athen, schauten sich die Menschen auf Staatskosten an drei Tagen drei Theaterstücke an und zum Schluss dann noch eine Farce oder Posse. Die gab es diesmal frei Haus als Vorspiel und viele sind sicher froh, dass es vorbei ist, das Trampeletheater.

Für ein erstes Drama schlägt Blom vor, zur Zeit von einem Kollaps einer kollektiven Erzählung zu sprechen.

Was könnte er gemeint haben?

Nun, weder die vereinigten Staaten von Amerika, noch die vereinten Nationen haben die ablaufende Epoche (1945 – 2020) als Gemeinschaftsprojekt weiter entwickelt, sondern nach und nach Macht und Geld entscheiden lassen, ob Kriege geführt wurden oder sich das Klima verschlechterte. Egoismus und Hegemonialdenken waren unterschwellig die „burner“ – nicht Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit und ökologische Vorsorge. Und das Narrativ von der einen Welt zerfiel in viele Teile, die nur ihren eigenen Vorteil im Focus haben. Gab es denn überhaupt eine kollektive Erzählung? Wenn wir Europäer in diese ablaufende Epoche zurückschauen, so lieferten wir doch immer erst im Nachhinein die Begriffe, die wir gerne dafür haben wollten. „Die Westliche Welt“ „Das Wirtschaftswunder“ „Die Angst vor dem dritten Weltkrieg“, der „Eiserne Vorhang“, der „Ost-West-Konflikt“, „Der Clash der Kulturen“, die „Eine Welt“ …

Alles Schnee vom letzten Jahr. Auch ein Angst machendes Wort wie Kollaps dient da nicht der Klarheit, sondern eher der Vernebelung. Wir haben uns ganz schön was in die Tasche erzählt.

Das zweite Drama, das Blom anspricht, sei der Kollaps der Wachstumsökonomie.

Natürlich auch hier wieder das Signalwort: Kollaps. Diesmal soll es allerdings nicht um Ideologie, sondern um Wirtschaft gehen. Wie oft schon erzählten wir Europäer uns etwas vom Ende des Kapitalismus, wie oft haben wir geirrt. Jede Wirtschaftskrise ließ Wachstum und Erfolg wie Phönix aus der Asche nur noch größer werden. Die Börse in Zeiten der Pandemie liefert dafür ein Schauspiel, das jeder Farce spottet. Und neues, rasanteres Wachstum verlagert sich doch gerade nur ins Digitale und treibt Blüten – nicht nur in Silicon Valley – wie wir es noch nie gesehen haben. Kollaps? Wie bitte?

Das dritte Drama, das Blom anspricht, sei der Kollaps der Herrschaft über die Natur.

Auch da setzen wir Europäer etwas als gegeben voraus, das es so nie gegeben hat: Wir haben nie über die Natur geherrscht. Das haben wir uns nur eingebildet. Und das Bild hat uns so geschmeichelt, dass wir es gerne für wahr genommen haben. Wir, die Ebenbilder des Schöpfers – um die religiöse Rahmung nicht zu unterschlagen – , haben uns die Erde untertan gemacht, wie es als Auftrag schon im Alten Testament geschrieben stand. Wir waren also folgsame Kinder Gotttes und erfolgreiche Vollstrecker seines Auftrags. Dabei ist es nur gestundete Zeit, die jeder einzelne von uns gewährt bekommt, dabei zeigt uns die Natur jederzeit und überall, wer Herr im Haus ist: Weder Gott, den sich der Mensch erfand, noch er selbst können vor ihr bestehen. Die Liste ihrer Herrschaft ist so lang wie die Geschichte dieses Planeten. Vom sogenannten Urknall und den schwarzen Löchern ganz zu schweigen.

Hier schließt sich der Kreis der Erzählungen, der Narrative, die wir medial schön aufgehübscht Tag und Nacht vor Augen haben auf unseren Bildschirmen. Die Sprecherstimmen flößen uns Vertrauen ein. Ja, so ist es.

Wäre es nicht besser, die großen Narrative einmal auf sich beruhen zu lassen und in kleinerem Kreise all überall an Narrativen zu arbeiten, die uns als Nesthockern gemäßer wären? Damit sich unsere Lebenszeit möglichst angstarm gestalten möge und der Flüchtigkeit unseres Existenz entspräche? Haben wir nicht gerade vier Jahre lang zuschauen können, zu welchen Übertreibungen Narrative führen können, wenn man meint, jeden Deal zu gewinnen, jeden?

Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurück zu kommen: sind wir gerade Zeugen eines historischen Moments des Umbruchs?

Wohl kaum. Die Angst vor dem Tod führt uns unerbittlich vor Augen, wer wir sind: Schwächliche Nesthocker, die nur mit Hilfe ihrer Artgenossen eine Chance haben zu überleben. Jeder Augenblick ist kostbar, jeder. Was soll da das Gerede vom Kollaps oder vom Umbruch?

06 Nov

Europa – Meditation # 231

Die Pandemie als Katalysator .

In Europa – für alle anderen Kontinente gilt das in ähnlicher Weise – waren die Künstler schon immer am Rande. Sie wurden kaum bezahlt, oft bemisstraut und hatten einen schlechten Ruf. Als Sänger, Dichter, Bildhauer, Maler – immer waren sie auch gefährdet, hinter Schloss und Riegel zu enden.

Jetzt in Zeiten der Pandemie sind es wieder gerade die Künstler, die nicht mehr ihren Begabungen mit Hoffnung auf ein Entgelt nachgehen können. Und die Adressaten ihrer Künste? Noch tun sie so, als ließe sich das verschmerzen, als gäbe es Wichtigeres als Konzerte, Theateraufführungen und offene Museen.

Doch wir Europäer sollten uns daran erinnern, dass immer noch der Satz gilt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“

Es ist es nicht das Gleiche, Pixelansammlungen auf Bildschirmoberflächen anzustarren oder gebannt bei lebendigem Leibe dem Geschehen auf einer Bühne zu folgen, wo lebendige Wesen vortäuschen jemand zu sein, der sie selbst nicht sind. Ein atemberaubender Betrug spielt sich da vor ihren Augen ab. Er belebt die Phantasie, verortet eigenes Erleben neu, verglichen mit dem vorgetäuschten auf der Bühne. Eine Begegnung der besonderen Art, als Spiel schon so lange immer wieder gespielt. Erst wenn es nicht mehr gespielt werden darf – so wie jetzt – bemerkt der einsame Mensch in seiner digital total verkabelten Kammer, was ihm fehlt außer Brot. Die Kunst. Denn obwohl sie mit unseren Sinnen macht, was sie will, wir wollen einfach nicht von ihr lassen – zu sehr misstrauen wir nämlich unserem eingeübten banalen Alltag als einzige Wahrheit und Wirklichkeit. Zu sehr mangelt es dort an Dichte, Lust und Lebensfreude. Erst im Verwirrspiel, das die Kunst mit uns in Szene setzt – ganz gleich ob mit Tönen, Farben oder Formen – begegnen wir wieder unserer eigenen inneren Stimme und der sehnsüchtigen Atmosphäre nach mehr, nach anderem, nach intensiverem Lebensgefühl.

Ein Zuviel davon, wie es oft bis zum Beginn der Pandemie in der Regel von Freitagabend bis Sonntagnacht laut, grell und irrlichternd von Sinn- und Partner Suchenden mutwillig inszeniert wurde, kann diese unstillbare Sehnsucht allerdings auch dämonisierend zerfetzen, so dass am Montagmorgen nur noch öde Leere übrig bleibt.

Aber die Pandemie wird uns ja vielleicht von Mutter Natur geschickt – was tut sich nicht schon alles, um uns zu beglücken – damit wir inne halten und das nun Entbehrte als wesentlich zu begreifen lernen. Ein Botschaft, die in der europäischen Philosophie schon immer mitschwang. Sie wurde wohl nur allzu oft überhört, in die Fußnoten verbannt:

Die Sprachen, die in Europa aus dem ursprünglichen Gesang der Stimmen langsam entstanden waren, haben sich zu einseitig in der Logik verbarrikadiert; nur die Künstler bestanden auch weiterhin auf ihrer Bodenlosigkeit, auf ihrem Versuchscharakter, dem man sich nicht verweigern sollte, sondern dem man sich kühn aussetzen sollte, um neue Lebensgefühle, neue Sehweisen, neue Formen des Lebens und des Seins zuzulassen und auszuprobieren. Ein Feuerwerk lustvoller Probeläufe, bei denen sich die Menschen Hilfe suchend an die Hand nehmen wollen, um nicht verloren zu gehen.

Und darauf sollen wir verzichten?

Niemals.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

04 Nov

Autobiographische Blätter – AbB – Neue Versuche # 53 (Leseprobe)

Ein Lyrik-Verächter bittet um Vergebung.

Wo die Musik am ehesten zu ihrem Recht kommt in der Sprache, da lässt sich leise sprechen, wie im Gedicht.

Wie die Musik schrankenlos in unser Herz sich durch kämpft, so bietet sich auch das Gedicht als freudvoller Gesang von Fühlen und Denken an. Es klingt so wunderbar rätselhaft, so geduldig fragend statt schnelle Antwort anzubieten.

Darum weisen die meisten es weit von sich: Was soll das undeutliche Sprechen, was das unordentliche Tönen? Warum so unnatürliche Formen wählen, warum so rhythmisch schreiten, raunen? Warum sich fremd gebärden? Klingt es doch wie künstliches Anders Sein Wollen. Wozu denn das? Da verdreht jeder klar Denkende die Augen: Die Sprache mit ihren klaren Strukturen werde hier mutwillig verhöhnt, bewusst sollte der Grammatik, dem Satzbau nicht gehorcht werden, nur um so zu gefallen. Wie dumm aber auch!

Könnte es nicht sein, dass dieser harsche Ton nicht eher auf den zurückfällt, der so tönt?

„Aber gefragt ist

Als ich dachte – damals oh dieses langsame

Aufmerken in dem geschlossenen Kreis! –

das zweite Haus einer Reihe von vollkommen gleichen

sei schon nicht mehr dasselbe (und gleiche schon gar

nicht), was hätte ich da

sonst denken können? Ich komme nicht drauf.“ (Elke Erb)

22.12.91

Wie denn auch? Hat nicht schon Lukrez sehr anschaulich gedichtet, dass nur eine zufällige Berührung eines Atoms irgendwo in den Sphären dazu führen kann, dass weitere unvorhersehbare Bewegungen die Folge sein werden, die wiederum zu einmaligen neuen Konstellationen führen, in denen dann wieder Berührungen zu Veränderungen Anlass geben…?

Und ist dann nicht die Lyrik – Elke Erb als eine der jüngsten Schöpferinnen in diesem unübersichtlichen Feld – ein viel schöneres Gefäß, das wir mit unseren zahllosen Bildern füllen können, als die strenge Form der Prosa, die wir immer auftreten lassen, als bilde sie unbestechlich das ab, was in den Protagonisten vor sich geht.

Was hat Kleist gegen diese scheinbare Unbestechlichkeit der Sprache nicht für Sturmläufe angetreten, immer wieder, immer wieder?

Es hat ihn schier um den Verstand gebracht.

Natura artis magistra et hominum.