31 Aug

Autobiographische Blätter – Neue Folge # 1

Vor 72 Jahren – eben erst waren die zwei Atombomben über Japan ausgeklinkt worden, hatten ihr grauenhaftes Werk getan, auch in Korea wurde noch gekämpft. Die Folgen sind bis heute unübersehbar. In Japan wie in Korea. Aber im Gedächtnis der Europäer und Amerikaner scheint das alles längst vergessen. Vergessen?

Nun, nicht unbedingt vergessen, auch nicht wirklich verdaut, besser vielleicht verdrängt. Oder scheinbar bescheid wissend abgehackt, im eitlen Blick des Abendländers?

Die eigentliche Geschichte eben doch vergessen?

Unser Gedächtnis ist wohl oft sehr gnädig mit uns. Gerade erst flog eine Mittelstreckenrakete über Japan hinweg. Gerade erst rasseln eitle Männer wieder mit dem A-Schlag-Klöppel. Die einen allzu beschäftigt mit dem Verdauen des Wohlstandmülls, die anderen mit schmaler Kost, aber hehren Posaunentönen. Bei den Römern gab es das Sprichwort in Sachen Geld Verdienen: NON OLET – „Es stinkt nicht“. Nicht nach Napalm oder Agent Orange, das erstmals 1965 in Vietnam eingesetzt wurde – da hat der Schreiber dieser Zeilen gerade Abi in Marienstatt gemacht, Jungeninternat; Altsprachliches Gymnasium, wo er neben Englisch und Französisch auch noch Latein, Griechisch und die Anfänge des Hebräischen gelernt hat –  Es sterben nicht nur zahllose Bäume, nein auch hunderttausende Einwohner und auch amerikanischen Soldaten, viele tausend junge Männer, werden vergiftet – Missbildungen, Tod waren die Folgen.  Waffenkosten, Folgekosten, ein bekanntes Muster schon lange. Und Profite auch.

Und die Opfer in Korea hat im Nachkriegseuropa kaum jemand im Blick. Man hofft erfolgreich, dass das ferne Gemetzel nicht in einen erneuten Weltbrand ausartet. Die vom langen Krieg erschöpften Deutschen  machen es ein bisschen so wie die drei niedlichen Äffchen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!

Deshalb herrscht auch im Sommer 1945 unheimliche Grabesstille in Europa. Es ist heiß. Es fehlt an allem, was zum Überleben nötig ist. Das Dach über dem einsturzgefährdeten Haus, die Kohle im Ofen, das Brot auf dem Tisch. Viele kleine Kinder und Säuglinge überleben es nicht. Betreten schaut man zu Boden. Ärmel aufkrempeln, anpacken – das ist nun die Devise.

Seine Mutter kämpft einen schier aussichtslosen Kampf gegen ein drohendes Ende des kleinen Zappelphilipps. Der schreit und schreit. Will nicht essen, nicht trinken und wird immer weniger statt mehr. Wie ein Wunder fast: sie schafft es dennoch. Nachbarn, hilfsbereite Bauern, unterützen sie dabei mit Milch und anderen Lebensmitteln. Sie betet täglich zu ihrer Göttin. Und die erhört sie und verschont sie von dem drohenden Übel.

Aber ständiger Gast ist auch die Angst gewesen in diesen ersten Tagen und Monaten des Jahres 1945. Angst vor Bomben aus der Luft, Artelleriebeschuss, Häuserkampf. Das bedrückt den kleinen Mann schon arg im Mutterleib. Wie fürchtet sich die Mutter da! Tag und Nacht. Die kleine Schwester dagegen findet es lustig, diesen quietschigen Jaulton in der Luft und das dumpfe Krachen danach: „Tschi-bumm, tschi-bumm…“

Später, als er zu sprechen lernt, wird jedoch über all diese Ängste natürlich nicht gesprochen. Man hat wahrlich genug Angst gehabt, warum sollte man nun auch noch weiter darüber reden, als sie sich nach und nach verabschiedet hatte, die Angst? Aber hatte sie das wirklich?

Auch Korea schrumpft in der Aufmerksamkeit der Überlebenden zu einem fernen Konflikt, der 1953/54 zu einem vorläufigen Ende kommt. Stalin stirbt in diesem Jahr. Churchill hatte den Begriff vom EISERNEN VORHANG erfunden. Der ist nun in aller Munde. Wir, die kleinen Kinder damals, nehmen ihn natürlich auch auf – wie das Brot und die Milch, die wir täglich hatten. Nun wieder reichlich. So schnell geht das manchmal. Verstehen tun wir das, was damit gemeint sein könnte, natürlich nicht – das mit dem eisernen Vorhang. Wie auch?

Von einem Wunder zu sprechen, gibt dem eigentlichen Geschehen dann so etwas wie eine Weihe, einen Glanz, den es aber ganz und gar nicht hatte. Nach zwei Weltkriegen in so kurzer Folge aufeinander, von Inflation und Revolution ganz zu schweigen, will man sich endlich mal wieder erbauen können – an sich selbst und der Welt.  Doch zuviele unerledigte Kränkungen und Verletzungen waren mit in den Kalten Krieg gereist und richten sich dort stumm und störrig ein. Nur nicht drüber reden. Wirtschaftswunder. Klingt doch gut. Wie aus heiterstem Himmel auf einmal wieder auf der richtigen Seite. Zumindest eine Hälfte, meinen die wortkargen Eltern. Auch der große Bruder bleibt ein beschwiegenes Geheimnis mit einem eher düsteren Geflüsterschimmer umgeben. Wir Kinder hatten keine Ahnung. Sprachlos sitzen die Eltern am Tisch. Die Mutter spricht das Tischgebet, der Vater starrt irgendwie grinsend vor sich hin dabei, scheinbar großherzig lässt er das Betritual über die Familie niederrieseln – die Kinder plappern brav das nach, was vorgebetet wird, das Essen duftet köstlich in großen Schüsseln, der Vater bekommt zuerst, die Kinder helfen der Mutter beim Abräumen, der Vater raucht Zigarre und verschwindet wieder im Büro…

( K o m m e n t a r   z u m    K o m m e n t a r     31-08-17)

Klingt alles ganz schlüssig, vieles vielen bekannt, so auch schon oft gehört. Aber wer verbürgt den Wahrheitsgehalt des Gesagten? Als ich ein Jungspund war, mit üblen Schmolllippen und tief heruntergezogenen Augenbrauen (ich meinte damals wohl, so meinen Leuten und wem auch immer etwas Angst einjagen zu können – so als kleine stumme Rache für die Langzeit-Angst-Babykost – und strengte mich gehörig an, möglichst schlecht gelaunt drein zu schauen). Was ich da aufschnappte, war mir alles sowieso suspekt. Und schweigen konnte ich auch besser als die. Ich war geradezu Weltmeister im Schweigen. Nicht, weil ich es besser wusste. Nein. Weil ich ihnen einfach nicht glauben wollte, weil ich es nicht wusste. Die konnten mir ja viel erzählen! Anekdoten manchmal bei Tisch oder auf einer langweiligen Autofahrt in den Sommerferien ins Wallis oder an den Lago Maggiore. Da sieht der Vater immer rechtschaffen und weitsichtig aus. Haben wir doch gewusst, dass das nicht gut gehen kann. Bei solchen entlastenden Allgemeinplätzen wurden meine Lippen nur noch schmolliger, hingen die Augenbrauen noch bedrohlich tiefer über den blauen Augen. Da konnte die Mutter anstellen, was sie wollte: ihr kleiner Sohn hatte die Schotten dicht gemacht. „Verstockt“ nennen es später die Mönche im Kloster, wo er neun Jahre Internatsleben absolviert. Durchblick stellt sich aber auch da nicht ein. Im Auswendiglernen ist er nicht schlecht. Von Selber Denken keine Spur. Er ergänzt nach und nach sein stilisiertes Schweigen mit Wortkaskaden. Sprache wird so allmählich sein Ding. Man kann ja auch wortreich stumm bleiben. Gesellte sich doch zu der alten Angst von ganz früher eine neue hinzu: Die des Nicht Verstehens. Wie machen die anderen das eigentlich? Warum erreichen die ihre Ziele und ich nicht? Gute Noten sind keine Ziele, nur Nebelkerzentheater. Dahinter steht der ratlose Zeitgenosse, der gerne wüsste, wie man sich an ein weibliches Wesen heranmachen könnte. Einfach so zuerst einmal. Nur so. Zufällig hört er einmal seine Lieblingstante, Tante Maria, zu seiner Mutter sagen: „Der werden die Mädchen nur so zufliegen.“ Hä? Nicht mal eine Mücke kommt da geflogen, von Mädchen ganz zu schweigen. Wie kann die so etwas sagen? Mit wem könnte er über so etwas reden? Er ist viel zu ängstlich und verlegen, dieses Thema – bezogen auf sich selbst – anzurühren. Vielleicht hat er diesen Satz seiner Tante ja auch nur geträumt, damit er an ihn glauben kann, als wenn er wirklich gesagt worden wäre. Wäre doch schön gewesen. Schwamm drüber. Das Schweigen hat sich doch schon so gut bewährt. Alle lassen ihn in Ruhe, machen einen großen Bogen um den schlecht gelaunten Pubertär.

Später, wenn er zu verstehen beginnt, wie damals die Wirklichkeit besprochen wurde, um sie schön bedeckt zu halten, wird die Suche nach dem nachträglichen Verstehen umso mühsamer: Was hat sich denn in all den Jahren, in denen wiederholt und variiert wurde, was gewesen sein soll, mit dem Erzählten zugetragen, wie hat es sich unter der Hand verändert, heimlich oder auch mutwillig oder launig? Jetzt sind die Eltern längst auf große Wanderschaft gegangen – Lukrez hat sicher Recht, wenn er sagt: Nichts geht verloren, alles hängt mit allem zusammen“ – aber wo und wie und warum? Jetzt bin ich gerne ausgesprochen gesprächig, könnte ihnen geduldig zuhören, würde sie behutsamst befragen, die Augenbrauen weit nach oben gezogen – so voller Neugier und Überraschung und Vorfreude auf all die Antworten, die bisher so schmerzlich vermisst wurden.

Was würde dann aus dem Kalten Krieg, dem guten Westen und dem bösen Osten? Was für Wahrheitsleichen wären dann aus dem Keller zu holen, wenn es um Zwangsarbeiter, um Nicht-Arier und Feigheit vor dem Nachbarn geht? Käme da ein ehrliches Gespräch zustande? Und was ist es dann für ein Gespräch, wenn er es jetzt fiktiv gestaltet mit verteilten Rollen, die er alle selber sprechen muss?

Auf den frühen Nachkriegsfotos sieht der kleine Mann eigentlich ganz niedlich aus. Die Eltern lächeln in die Kamera, die Geschwister auch. Was aber ist der Subtext zu diesen Bildern? Was wabert zwischen den Momentaufnahmen für eine Atmosphäre? Wie ließe sie sich entschlüsseln?

Als 93-jährige gesteht ihm seine Mutter – unfassbar eigentlich, wenn man das lebenlange Beschweigen solcher intimer Themen in der Familie bedenkt – dass er am 20. Juli 1944 gezeugt worden sei, als sie im Volksempfänger gehört hatten, auf Hitler sei erfolgreich ein Attentat verübt worden. Da hätten sie wieder Hoffnung gehabt. Ihm verschlägt es die Sprache. War damals im Volksempfänger denn wirklich solche eine Nachricht gekommen? Ein erfolgreiches Attentat?  Wohl kaum. Also eine weitere gut erfundene Geschichte, die niemals auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden kann? Wahrscheinlich. Wer schmunzelt jetzt wo? Die Göttin im Himmel? Die Mutter an ihrer Seite? Der Vater höchstens im Fegefeuer schwitzend? Gut erfundene Geschichte. Und wenn sie niemand mehr erzählen kann? Weil niemand mehr die erfundene Geschichte kennt? Was dann? Wird sie dadurch unwahrer oder wahrer oder nichts von beidem? Sind Geschichten nicht immer erfunden, ausgedacht – oder zumindest ausgeschmückt oder eigenwillig verkürzt?

Kehren wir noch einmal zur der Anfangsgeschichte zurück: Nord- und Südkorea, das zweite geteilte Land auf diesem kleinen Planeten. Aber eine völlig andere Geschichte, wenn auch aus der gleichen Katastrophengeschichte entstanden aus imperialen Fieberträumen – hier wie dort. Dennoch eine völlig andere Geschichte. Nicht nur, weil sie in Asien spielt, nicht nur weil wir sie mit unseren abendländischen Augen betrachten, nicht nur weil unser Land seit fast zwanzig Jahren nicht mehr geteilt ist in Trizonesien und Ostzone, in DDR und BRD, nein, auch deshalb, weil Korea seit Beginn des 20 Jahrhunderts von Japan besetzt war und danach von Russen und Amerikanern, zum Schluss kommen auch noch die Chinesen ins Land. Fremdherrschaften alle. Das ist wahrlich ein sehr andere Geschichte. Oder?

Wie in Vietnam haben die Amerikaner auch auf der gesamten koreanischen Halbinsel – zusammen mit anderen von der UNO legitimierten Ländern – verängstigte Menschen mit Bomben überschüttet. Opfer von Anfang an. Die Teilung ein „deal“ der Großmächte. Daran krankt das Land seitdem. Wir sollten nicht den Stab brechen. Vielleicht wäre fundiertes Wissen über die koreanische Kultur anzuhäufen ein angemessener Anfang für ein ausgewogenes Urteil. Vielleicht können wir dabei auch die eine oder andere lieb gewonnene Sehweise – wenigstens im Nachhinein – korrigieren oder gar als lediglich entlastende Lüge entlarven?

Wie schnell fühlt man sich auf der Seite des Stärkeren auch auf der richtigen Seite.

Reden und Zuhören. Das tut not. In Palästina wie in Korea. Pontius-Pilatus-Pose hilft da gar nicht weiter. Denn alles hängt mit allem zusammen und nichts geht verloren.

22 Apr

Leseprobe # 3 Echos aus gelebtem Leben – Autobiographiesplitter

23 Echo das dreiundzwanzigste 11-03-16

Aus:  Wolfgang Herrndorf. Arbeit und Struktur:

W.H. „15.12.2010 16:37 Prof. Moskopp zitiert Schiller, Benn, Wittgenstein. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dies sei, so Prof. Moskopp, vermutlich zu plakativ (mot juste vergessen). Einigkeit mit Tom Lubbock, der Worte und Sprache verliert, und dennoch: „My thougths when I look at the world are vast, limitless and normal, same as they ever were.“

js – DO 16.12. 2010 14:40

Laura hatte auf dieser Seite des TG ein Zitat von Humboldt hingeschrieben:

Die Zeit ist nur ein leerer Raum, dem Begebenheiten, Gedanken und

Empfindungen erst Inhalt geben.

Und der alte Floh hat an diesem Tag einen zweiseitigen Eintrag in türkisfarbener Tinte verfasst: …Es ist der Tag (der Vortag, also der Tag, am dem W. H. seinen Prof. Moskopp-Eintrag verfasste), an dem er mit Nora per Zug nach Lübeck fährt, wo ihr Rigorosum um 13:00 Uhr stattfinden wird. Jetzt, wo er diesen langen und detaillierten Eintrag liest, kommen tatsächlich auch die Bilder wieder zurück; sicher etwas geschönt und mit Patina versehen, aber doch wohl im Bereich des Wahrhaftigen, tangential zumindest…

Fortsetzung am 12-03-16 16:12

Am 17.12.2010 15:43 schreibt W.H.: „Unangemeldeter Besuch eines jenseitsgewissen Christen, der mein Blog gelesen hat.“

Fast gleichzeitig steht im TG des pensionierten Flohs folgendes Zitat aus Jonathan Franzens FREIHEIT , S, 71 (weitere Verweise auf S. 72, 74, 104 und 105):

„Da sie sich an ihren Bewusstseinszustand während der ersten drei Jahre am College nicht erinnern kann, fürchtet die Autobiographin, dass sie sich einfach in keinem Zustand der Bewusstheit befand. Es kam ihr zwar so vor, als ob sie wach wäre, aber in Wirklichkeit muss sie geschlafwandelt sein.“

Der ironische Unterton in W.H.’s Eintrag zeigt unterschwellig seinen Unwillen: einmal gegen die Jenseitsgewissen und sicher auch gegen falsche Empathiker. Dazu passt auch gut der Eintrag von Laura auf der gleichen Seite wie das Franzen-Zitat (zu ihrem Geschenk gehörte eben nicht nur das leere Tagebuch, sondern eben auch viele Zitate über viele Seiten verteilt. Ein schönes Geschenk):

Wer nicht in die Welt passt, der ist immer nahe daran, sich selber zu

finden.“ (Hermann Hesse)

W.H.! Du hast dich ganz sicher gefunden – nicht zuletzt in deinen eigenen Texten!

22 Apr

Leseprobe # 2 Ausschnitt aus dem historischen Roman, zweiter Teil

Es geht nichts verloren, sagte schon Lukrez

Julianus spricht gerade mit Somythall über die letzten Unterrichtsstunden bei seinem wunderbaren Lehrer Philippus. Sie haben nicht mehr viel Zeit. Somythall wird in den nächsten Tagen aufbrechen, denn Rochwyn möchte sie noch vor Einbruch des Winters sicher nach Luxovium bringen. Dort gibt es weise Frauen, die ihr bei der Geburt helfen können. De rerum naturae. Somythall muss immer wieder schmunzeln, wenn sie ihm zuhört. Er ist so begeistert. So voller Lebensfreude. Da fällt ihr wieder ihre Großmutter ein: Ihr Gesicht, wenn sie ihr summend und mit strahlenden Augen alte Geschichten erzählt hatte. Mit einem wohlig wärmenden Kichern am Ende. Die Frauen, von denen die Großmutter da gesprochen hatte, waren auch so voller Lebensfreude, Liebeslust und Glücksgefühlen gewesen. Lukrez und die Urururgroßmutter ihre Großmutter müssen Freunde gewesen sein, denkt sie. Die strahlenden Gesichter, die sich Somythall dabei immer vorgestellt hatte, ähnelten dem von Julianus jetzt. Genau. Sie fühlen wohl das gleiche, denken in verwandten Bildern, träumen ähnliche Träume, strahlen die gleiche Wärme und Zuneigung aus wie er, jetzt.

Gibt es vielleicht geheime Töne und Energien jenseits von Zeit und Raum, die sie alle miteinander verbinden?

„Wie meinst du das, Julianus?“

Julianus ist begeistert. Dass Somythall so neugierig ist, macht ihn fast schwindlig vor Freude. Schade, dass die Sprache nur Wort für Wort das Gedachte herausbekommt. Lieber würde er alles, was er gerade denkt, auf einmal zu ihren Füßen legen. Mit ihr darauf eng umschlungen tanzen oder auch noch mehr. Nach mehreren Atemzügen und Liebe vollsten Blicken fährt er hastig fort:

Es hängt alles zusammen, das Größte mit dem kleinsten und umgekehrt, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen und Zukünftigen. Lukrez ist sogar der Meinung, dass der klingende und schwingende Kosmos mit all dem verbunden ist; es gehe nichts verloren. Auch von uns selbst nicht.

Denn alles, was zerfällt – bis zu den kleinsten Atomen – wird wieder neu zusammengesetzt. Und das Neue hat in seinem Gedächtnis und in seinem Körper das Ehemalige dabei. So sei Werden und Vergehen miteinander verschränkt und fest verknüpft für immer. Selbst die Götter unterliegen diesem Fluss der Dinge und Atome.“

Somythall kann es nicht fassen. Wovor sollte sie dann noch Angst haben müssen? Sie und Julianus bleiben für immer miteinander verbunden. Eine warme Welle voller Lebensfreude überschwemmt ihren aufgeregten Körper.

Die Götter auch? Wie schön, dann sind sie uns ja viel näher und verwandter als die meisten glauben. Deine Götter genauso wie die meinen. Oder?“

Julianus nickt nur. Wortlos sitzen sie auf der kühlen Marmorbank. Die Schriftrollen in den Nischen um sie herum scheinen auf einmal zu flüstern. Auch sie wollen ihre Geschichten erzählen, wollen – wenn auch nur sehr, sehr leise – mitteilen, dass sie alles hören und verstehen können, was um sie herum gesagt wird. Und dass es genau zu dem passt, was sie selbst zu sagen haben, schon so lange.

Dass bald eine Feuersbrunst sie noch leiser und kleiner werden lassen wird, ist ihnen völlig einerlei.

Jetzt ist wieder ein solcher Augenblick, der Verwandtes unbedingt fühlen lässt. Jetzt. Somythall und Julianus saugen mit ihrem Atem all das in sich auf, lassen es in sich Herberge finden, Frieden. Der junge Römer sucht die Hand der schwangeren fremden Frau. Die bunten Figuren auf den Wänden scheinen zu schmunzeln. Alles hat in diesem Augenblick seinen richtigen Platz, alles passt zusammen. Und die zwei jungen Menschen spüren es auch. Als wüchse ungefragt eine wunderbare Kraft in ihnen, als löste sich von ihnen jedwede Schwere. So kommt es ihnen vor. Ausgelöst durch ein Buch, das vor so langer Zeit schon geschrieben worden war. Von einem römischen Autor, von Lukrez, der sich wiederum eng verbunden fühlte mit Gleichgesinnten aus den längst vergessenen griechischen Welten.

Da öffnet sich die Tür. Die Abendsonne zeichnet den Körper des Eintretenden in scharfen Linien, sein Gesicht schattenumhüllt. Aber sie kennen diese Gestalt genau. Es ist Rochwyn. Er kommt, um Somythall abzuholen. Selbst der nahende Abschied verliert unversehens seine Schwere. Die beiden stehen gemeinsam auf, umarmen sich wortlos und lösen sich voneinander.