Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 29
AbB Neue Versuche # 29 10-05-2020 Judith Kuckarts – Kein Sturm, nur Wetter. Roman 2019 – siehe: SZ / # 218 / Freitag, 20. Sept. 2019 – Literatur – S. 15 v. Hubert Winkels.
„Wo sind die Erinnerungen, wenn man sie nicht hat?“
Was für eine gefahrvolle Frage!
Mehrdimensional sind die Bilder farbenfroh vor Augen beim Denken in der flüchtigen Gegenwart – dann fallen sie hinten, hinter dem Bühnenrückraum, einfach in die Tiefe des Unterbewusstseins hinab. Aber wohin? Wo schlagen sie auf? In welchen Regalen stehen sie in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet? Sind sie da gegen Sonnenlicht geschützt? Oder werden sie wie Poster übereinander gestapelt, nach zeitlicher Abfolge des Gedachten, beziehungsweise Erlebten? Oder werden sie in Einzelteile zerlegt – Puzzle-Stückchen – liegen dann einfach auf einem Haufen, wo man sie erinnernd wieder ordentlich zusammenlegen muss. In Schubladen verstaut? Und wenn das zu lange dauert? Oder liegen sie in Säcken zusammen mit den Gerüchen in Kühlräumen? Oder gibt es eine Karteisammlung, in der sie abgelegt sind unter bestimmten Stichwörtern? Oder verflüssigen sie sich und werden beim Neu Zusammensetzen nur sehr ungefähr wieder verfestigt? Oder bemächtigen sich die starken Gefühle ihrer und kneten sie zu einem bunten und geruchslosen Brei, den sie genüsslich verspeisen. Als verdaut oder unverdaut tauchen sie dann unerwünscht oder zu hastig wieder vor dem inneren Auge auf und tun so, als wären sie gerade nur mal schnell wo gewesen. Aber wo waren sie wirklich und als was in der Zwischenzeit? Werden sie vielleicht im Wartezustand unwillig, verzerren sich zornig und präsentieren sich deshalb bei Wiederbelebung als Zerrbilder? Oder tun sie nur so, dass sie es wären, wollen aber – weil achtlos hinten abgelegt – so richtig den Erinnernden täuschen, als Rache sozusagen; weil ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als sie in der sinnlichen Wirklichkeit waren? Und die Fotos? Da haben die zurückkehrenden Erinnerung keine Probleme: Sie tun einfach so, als kämen sie ihnen bekannt vor. Im Stillen aber lachen und kichern sie in einem fort, weil ursprünglich doch alles ganz anders gewesen war. Oder? Natürlich. Und eben gerade kein Foto. Die Erinnerung war doch dabei gewesen! Also, was soll das ganze Theater?
Es ist nur eine peinliche Unaufmerksamkeit des Erinnernden, wenn er seine Erinnerung nicht in sich lokalisieren kann. Er kennt sich eben einfach zu wenig da drinnen aus. So einfach ist das. Anstatt immer mit den Sinnen das Außen abzutasten, sollte er besser mal in der Gegenwart anwesend sein. Dann wüsste er nämlich, dass das Erleben des Augenblicks so eine unendliche Fülle von Chaos und Schönheit ist, dass er gar nicht erinnert werden kann. Denn das erinnerte Erinnern ist dagegen derart blass und schlaff, dass der Erinnernde alles daran setzt, den schwarzen Peter ans fehlerhafte Bewusstsein zu delegieren. Unwiederbringlich aber.
„Da hätte ich doch mehr von dir erwartet, wirklich!“