Leseprobe – YRRLANTH – Roman Blatt 136
Die Christen in Argentovaria und ihr Sündenbock.
Als Somythall sich zum Ausgang des alten Heiligtums so vieler Göttinnen und Götter umwendet, fällt ihr Fackellicht auf eine weitere Nische, die sie beim Hereinkommen wohl übersehen hatte. Rochwyn, der gleich wieder neben ihr steht, gibt der großen Plastik mit seinem zusätzlichen Fackelschein noch mehr Licht. Lacht dieser Gott etwa?
„Wer ist das?“ flüstert sie stotternd.
„Kernunnus“, antwortet Rochwyn, „der Gehörnte“, Gott der Natur, der Tiere und der Fruchtbarkeit.“
Er sitzt mit überkreuzten Beinen da, bärtig und mit einem Füllhorn im Arm. Aus seinem Schädel wachsen ihm zwei ausladende Hörner, wie bei einem Hirschen. Mit nacktem Oberkörper trägt er sonst nur eine lange Hose. Und neben ihm erkennt Somythall natürlich gleich zwei vertrautere Figuren: rechts von ihm Apoll und links von ihm Merkur, beide völlig unbekleidet und wunderschön. Somythall weiß gar nicht, was sie mehr bannt; jedenfalls ist sie erregt, sprachlos und erinnert sich gleichzeitig an einen kleinen behauenen Stein, den ihre Großmutter in Yrrlanth meistens in der Hand hielt. Irgendwie meint sie, dass diese Figurengruppe diesem Stein ähnelt. Irgendwie.
Sie atmet tief ein, will etwas sagen, tut es aber dann doch nicht. Plötzlich möchte sie schnell wieder zum Tageslicht zurück. Diese Welt hier unten im Schein ihrer Fackeln hat sie völlig verwirrt. Ein ihr gänzlich fremdes Glücksgefühl verleiht ihr geradezu Zauber-Schwingen. Schwebe ich? Sie würde am liebsten singen, tanzen, mit Rochwyn eins sein.
Draußen ist aber vom Tageslicht nicht mehr viel übrig. Als sie jetzt ihre Fackeln löschen und sich anschauen, meint sie, in ihren Augen schimmre weiter ein heller Glanz in ihnen nach. Lange gehen sie wortlos Richtung Argentovaria. Rochwyn hat einen Arm um ihre Schulter gelegt. So kennt sie ihn gar nicht, so nah. Geht es ihm genauso wie ihr?
Von weitem hören sie laute Stimmen. Es klingt wie ein Streit. Rochwyn strafft sich, löst sich aus der Umarmung und geht jetzt vor ihr her, als müsse er sie schützen vor dem, was ihnen da entgegenschallt.
Die Hütten der Franken stehen ungeordnet um eine Mitte, wo früher vielleicht einmal ein Marktplatz war. Argentovaria. Dort sehen sie Männer gestikulierend eifern.
Jetzt können sie auch verstehen, was sie sagen:
„Sie sollen hier endlich verschwinden!“
„Lass sie doch, sie haben schon genug mitgemacht!“
„Ihr Problem, nicht unsres. Der Bischof kann sie auch nicht leiden.“
„Der! Der will nur mehr Abgaben, mehr Macht. Deshalb passen ihm die Sonderregeln für die nicht, ist doch klar oder?“
„Was verstehst du schon davon, hä? Haben die nicht unseren Christus auf dem Gewissen?“ Somythall schaut Rochwyn fragend an. Da sagt er:
„Es geht um die Juden, die nach dem Hunneneinfall in Argentorate mit verantwortlich gemacht wurden für das Gemetzel und die Zerstörungen. Da konnten sie dort nicht bleiben. Eine kleine Gruppe hat sich hier in Argentovaria niedergelassen.“
„Aber warum?“
„Weil, weil…“, Rochwyn zaudert. Der Hass in den Mienen der Streithähne ekelt ihn an. Was sind das für Christen, diese Franken, wenn sie so gefühlslos gegen andere los wettern? Seine Großeltern hatten ihm von den Gewalttaten gegen jüdische Stadtbürger in Argentorate erzählt. Es hatte dort eine kleine jüdische Gemeinde gegeben. Seine Familie hatte sogar Tuchgeschäfte mit ihnen von Arelate her betrieben, wo Rochwyns Familie ein großes Handelshaus erfolgreich führen.
„Sie hatten ihr eigenes kleines Gebetshaus an der Stadtmauer, gleich neben ihrem eigenen Viertel. Es war Kaiser Justinian, der ihnen vor gut hundert Jahren alle bürgerlichen und religiösen Rechte entzog. Die Bischöfe in Rom hatten lange auf den Kaiser eingeredet: Sie seien schuld daran, dass ihr Erlöser in Jerusalem getötet wurde.“
„Aber Christus ist doch selbst ein Jude – oder?“
„So ist es!“
Zufällig kommen da Abt Ambrosius und seine Mitbrüder vom Abendgebet vorbei. Gerade als sich der Abt energisch einmischen will, sieht er Rochwyn und bricht seinen Wutanfall ab, bevor er überhaupt richtig seine Hasspredigt einbringen kann.
Nun haben auch die streitenden Franken die Dazukommenden bemerkt. Für einen Moment unterbrechen sie ihr Geschrei und wildes Gestikulieren. Es wirkt fast wie ein düsteres Schattenspiel auf einer kleinen Bühne. Die drei Juden, die mit ihren Kinder schon ängstlich davon laufen, bekommen so gar nicht mehr mit, wie Rochwyn und Somythall sich einmischen.
„Ist das die Botschaft der Liebe, die euer Gott verkündet hat? Gilt sie nur für euch oder gilt sie für alle?“
Rochwyn ruft es laut in die Runde. Somythall legt nach:
„Der Frankenkönig hat ihnen doch sogar einen Schutzbrief ausgestellt – gilt der in Argentovaria nicht?“
Rochwyn staunt. Woher weiß sie das? Aber er hat keine Zeit, darüber nachzudenken, denn jetzt erhebt auch Ambrosius das Wort. Er fühlt sich seinen Mitbrüdern gegenüber dazu verpflichtet.
„Schutzbrief, Schutzbrief! Wir sollen unserer Kirche dienen. Sie haben das Blut unseres Gottes vergossen, nun soll ihres fließen, heil dir, Christus, Sieger und Erlöser!“
„Amen, amen!“ antworten ihm seine Mitbrüder, die sich in großer Geste bekreuzigen, „amen, amen!“
Die Meute der Wütenden nickt zufrieden.
„Sie sollen verschwinden, sonst töten wir sie!“
Rochwyn und Somythall schauen sich nur an, schütteln entsetzt den Kopf.