Historischer Roman II – YRRLANTH – Leseprobe
Blatt # 142
Das unverhoffte Ende der schmerzvollen Stille.
Wie in einem Albtraum gefangen, so stehen sie alle da: Die fremden Krieger mit ihren bluttriefenden Schwertern auf der einen Seite und Rochwyn und seine Leute mit angehaltenem Atem auf der anderen Seite. Somythall drückt ihr wimmernden Töchterchen Sumil schützend an sich, als jetzt wieder Bewegung in das starre Angstbild kommt:
„David, geh ihnen bis zur Mitte der Lichtung vorsichtig entgegen. Sie kennen dich ja. Sie werden dir sagen, was sie mit uns vorhaben!“ flüstert Duc Rochwyn seinem Dolmetscher, einem der drei neuen Gefolgsleute aus Argentovaria, zu. Der nickt und geht los. Wytgos und Berolos stehen kampfbereit neben ihrem Duc. Sie wissen, dass ihr Ende naht.
Rochwyn und Ruth, die Amme, stehen schützen vor Mutter und Kind.
„Nur über unsere Leichen!“ knurrt der Duc zornig. Für einen Augenblick würde er gerne die ganze Reise mit diesem unseligen Abt und seinen Mönchen ungeschehen machen. Doch dann hätte er Somythall nicht kennen und lieben gelernt.
Da löst sich auf der anderen Seite der Anführer aus der wütenden Rotte seiner kampfbereiten Krieger. Domdardon. Inmitten der großen Lichtung steht er dann dem Dolmetscher zum zweiten Mal gegenüber und zischt seine Forderungen heraus. David nickt.
„Und? Was will er?“
Es ist Wytgos, der ihm das entgegen ruft.
„Wenn wir ohne unsere Waffen ihrem Baumgott geopfert haben, können wir gehen.“
Rochwyn schaut sich um. Alle warten ängstlich auf seine Antwort:
„Geh, sag ihm, wir tun, was er will.“
Wytgos und Berolos schnaufen wütend los, wagen aber nicht, ihre Stimme gegen ihren Duc zu erheben. Mürrisch nicken sie, als Rochwyn sie fragend anblickt.
„Legt eure Waffen ab und kommt, das ist unsere einzige Gelegenheit, mit dem Leben davon zu kommen. Alles andere wäre nur töricht und dumm. Ihr habt ja gesehen, was mit dem Abt und seinen Mitbrüdern geschehen ist. Sie sind in Überzahl.“
Dann wirft er seine Waffe fort und geht los. Seine Leute tun es ihm wortlos nach.
Auf der anderen Seite der Lichtung angekommen, haben die fremden Krieger eine Gasse gebildet, durch die sie direkt auf die große Buche zu gehen. Keiner spricht ein Wort, alle in lauernder Haltung. Rochwyn erhält jetzt eine hölzerne Schale, gefüllt mit Blut. Wessen Blut? Er will darüber nicht nachdenken.
Domdardon spricht ihn in drohendem Tonfall an, David übersetzt es dem Duc leise:
„Schütte dieses Blut über die Füße des großen Donar, er hat Durst!“
Rochwyns Leute bleiben stumm stehen, als ihr Duc nun verächtlich das Blut aus der Schale über die Wurzeln der großen alten Buche schüttet. Dann lässt er die Schale einfach fallen, dreht sich um, würdigt Domdardon keines Blickes und geht gemessenen Schrittes über die Lichtung zurück. Seine Leute hinter ihm.
„Los, nichts wie weg! Nachher überlegen die sich es noch anders!“ ruft er laut, steigt auf sein Pferd, während Somythall mit Sumil wieder in der Sänfte Platz nimmt und von seinen treuen Gefolgsleuten eskortiert wird. Stumm reiten sie durch den Buchenwalddom: Eine Schar fliehender Menschen, die gerade dem sicheren Tod entkommen sind.
Als im Westen die Sonne untergeht – die Wolken in ein fahles Blutrot getaucht – beschließt die aus Yrrlanth stammende Truppe zusammen mit den jüdischen Gefolgsleuten aus Argentovaria erst wieder Halt zu machen, wenn sie am Ufer des großen Rhenus angekommen sind. In einer Talsenke unterbrechen sie nur kurz diesen Gewaltritt, damit Somythall Sumil in aller Ruhe stillen kann. Ruth, ihre Amme, hatte darum gebeten, der Duc hatte sofort zugestimmt. In ihren Köpfen tanzen währenddessen die mörderischen Bilder vor dem Baumgott der fremden Krieger wie wild und nicht zu bändigen hin und her, hin und her. Das Zittern ihrer Hände verrät das zittrige Gezappel der sterbenden Mönche in ihren Köpfen, ob sie es wollen oder nicht, es kommt einfach ungebeten immer wieder. Auch das angstvolle Geschrei der wehrlosen Männer – so weit gereist um so erbärmlich zu enden – dröhnt ihnen in ihren frischen Erinnerungen laut durch und durch. So wird es ihnen noch lange auf ihrer Rückreise ergehen. Ganz abgesehen von den anderen Schicksalsschlägen, die noch auf sie warten. Wie der gemeine Nachtmahr in ihnen drin.