Im Labyrinth der Götter – Blatt 191 – Leseprobe/Historischer Roman II
Der kühle Empfang von Julianus in Dividorum
Nach dem missglückten Anschlag verläuft der Rest der Reise ohne Zwischenfälle. Wenn sie durch kleine Weiler oder Dörfer reiten, schauen die Menschen misstrauisch aus ihren Verschlägen. Der sieht aber nicht aus wie ein Franke, was sind das denn für zwei Begleiter, wo kommen die wohl her, wo wollen die hin – so oder ähnlich lauten wahrscheinlich die stummen Fragen, die sie stellen. Julianus kann sie nur zu gut verstehen. Sie leben in Angst, haben Hunger und werden zu immer höheren Abgaben oder zum Waffengang gezwungen. Was für eine Welt. Verglichen mit dem Leben in der Villa Marcellina an der Liger eher erbärmlich. Julianus versucht seine Gedanken zu ordnen. Er weiß, er schwebt in Lebensgefahr. Sein Plan, Bischof von Dividorum zu werden, könnte scheitern, noch bevor er dort angekommen ist. Seine beiden Begleiter reiten stumm vor ihm her. Er kann ihr schlechtes Gewissen geradezu riechen. Als habe er die Gedanken Julianus‘ gespürt, dreht sich jetzt der eine zu ihm um:“ Wir sind bald da!“ Julianus nickt grinsend. Ihr Weg ist mehr und mehr von Leuten gesäumt, die ihnen nachstarren oder bewusst wegschauen. Getuschel dann. Von einer Anhöhe aus sieht Julianus jetzt auch den alten Kirchturm. Gleichzeitig tritt die Sonne hinter einem weißen Wolkenberg blendend hervor. Ein gutes Zeichen oder will sie mich blenden? Julianus entscheidet sich für die erste Variante.
Als sie durchs südliche Stadttor reiten, die beiden Begleiter mit der Wache sprechen, verbeugt man sich freundlich vor Julianus und lässt ihn passieren. Im Gewühl der engen Straßen steigen sie ab und führen ihre Pferde am Zügel neben sich. Ein normaler Alltag in Dividorum. Julianus nimmt das Leben der Bürger neugierig auf. Vielleicht werden sie bald zur meiner Inthronisation als Bischof kommen. Voller Neugier: Ein völlig fremder Mann, gerade erst im Schnellverfahren getauft, und auch noch aus einer alten, römischen Senatorenfamilie! Für einen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, seinen kühnen Plan aufzugeben. Doch schon melden sich in seinem Kopf der Vater und sein Lehrer Philippus: „Für einen Römer gibt es keine Furcht. Und für die Gemeinschaft eine Aufgabe zu übernehmen, ist für jeden aus der Familie der Villa Marcellina eine Verpflichtung, die man nicht ausschlägt.“ Julianus atmet tief durch. Vor lauter Grübeln hätte er beinahe seine beiden zwielichtigen Begleiter aus den Augen verloren. Da gelangen sie auch schon zum Mittelpunkt von Dividorum: wuchtig erhebt sich vor ihnen die gedrungene Fassade der romanischen Bischofskirche, wuchtig auch die Türme. Zu beiden Seiten eines arkadengeschmückten
Vorbaus hohe Mauern, dahinter in einem Garten das bischöfliche Palais. Auf dem Platz glotzen die Leute neugierig, brechen ihre Gespräche ab, weisen mit dem Finger auf die Fremden und die drei Pferde. Als sie ihm Torbogen zur Rechten ihre Pferde abgeben, hat Julianus eine ersten Blick auf seinen Amtssitz. Ein prächtiger Bau, mit vielen Fenstern, einem Balkon und einem Portal, zu dem drei breite Stufen hinauf führen. „Man wartet sicher schon auf euch“, flüstert der eine, aus dessen Augen immer noch Schuldgefühle wie üble Nebelschwaden zu quillen scheinen. Julianus nickt. Der andere lässt den Türklopfer ertönen. Schon wird geöffnet. Man hatte sie wohl aus den kleinen Fenstern kommen sehen. Und während die beiden Begleiter Julianus‘ Gepäck von den Pferden holen, leitet ihn ein alte Priester
mit jovialer Miene weiter ins Innere, in einen Empfangsraum, wo schwere, dunkle Teppich an den Wänden hängen – mit Motiven aus dem alten Testament bestickt – und Julianus zu einem Stuhl mit hoher Lehne geführt wird, wo er sich dankend und seufzend niederlässt. „Darf ich ihnen eine Erfrischung bringen lassen?“ fragt der Alte und verzieht dabei keine Miene. „Ja, gerne, das wäre sehr freundlich. Wir haben wahrlich ein beschwerliche Reise hinter uns.“ Da verzieht der alte Priester nur kurz sein Gesicht zu so etwas wie einem mitfühlenden Lächeln, bevor er sagt: „Ich bin übrigens Pater Stephanus. Bischof Arnulf hat mich vor vielen Jahren zu seinem Hausmajor gemacht. Seit er tot ist, verwalte ich sein Haus, bis der neue Bischof kommt.“ Julianus muss innerlich herzlich lachen. Als wenn der nicht wüsste, dass hier bereits dieser neue, künftige Bischof vor ihm steht. „Das Haus Gottes und das bischöfliche Palais machen einen wohl bestellten Eindruck. Ihr seid ein umsichtiger Verwalter des bischöflichen Anwesens, so weit ich das bei meinem ersten Eindruck sehen kann.“ Pater Stephanus
fühlt sich geschmeichelt und verlässt sich erneut verbeugend den düsteren Raum. Julianus hört, wie seine beiden Begleiter Stephanus fragen, wohin sie das Gepäck bringen sollen. Für ein paar Momente schließt er seine Augen, denkt an die Villa, an Somythall, an Sumil, an Pippa. Ob sie schon in Mons Relaxus angekommen sind? Ob es Zwischenfälle gab, so wie den, den e r erleben musste? Da kommt aber schon Pater Stephanus zurück. In der Rechten ein Tonkrug und in der linken ein hölnerner Becher. Mit zitternden Händen stellt er die Gefäße auf dem großen Holztisch ab, an dessen Ende Julianus sitzt. „Danke!“ sagt Julianus, weiter nichts, als ihm das frische Wasser in den Becher gegossen wird. Später – es hatte sich natürlich längst herumgesprochen – kamen die Vertreter der Bürgerschaft von Dividorum, um den Kanditaten auf den Bischofssitz zu beschnuppern. Immerhin ist die Stadt um einiges größer und wohlhabender als Lutetia, liegt sie doch an der wichtigen Handelsstraße zwischen Augusta Treverorum und Ludgunum. Und der Bischof ist für die Bürger der wichtigste Mann. Seine Macht steht über allen. Julianus scheint auf die neugierigen Männer einen guten Eindruck zu machen. Sie behandeln ihn mit Respekt. Ob aus Überzeugung oder voller Berechnung lässt sich aus ihren Mienen natürlich nicht ablesen.