Archäologie des eigenen Lebens – AbB – Leseprobe # 76
Schürfungen, Reste, Nachträge.
Wenn der harte, metallene Speitel des Grübelns unbarmherzig über die oberste Schuttschicht unserer Lebenskreise kratzt, dann kommt meistens nichts Überraschendes zutage. Erst wenn man kleine, feine Sonden in tiefere Schichten hinablässt, könnte man fündig werden: Verkrustet, verformt, verrostet. Erinnerungsflöze, deren Reichtum leichtfertig übersehen wurde. Als Reste klein geredet, statt als Schätze geschätzt.
So viele Plätze auf dieser Welt haben ihn gesehen: Salamanca, Siena, vor der Union in Ann Arbor, am Strand von Negril, in Lower Waterford, am Fallen-Leaf-Lake, auf dem Cadillac Mountain, in Kyoto, Chandigarh und Toronto-Island, in Boulder und in Lander, Wyoming oder vor der Faneuil-Hall in Boston und neulich erst in Kopenhagen, auf Usedom und im Sarcow-Park, von Brasilia mit Blick auf die Pyrenäen ganz zu schweigen – oder Vezelay und Fontenay oder die drei Schwestern in der Provence oder im Lake District. Wenn nichts verloren geht, dann wird man auch dort noch fündig werden, wenn man wollte. An all diesen Orten herrscht gerade jetzt reges Treiben oder stilles Ruhen. Ob Vögel dort nisten oder Chipmonks bizarre Wettrennen veranstalten, ob Regentropfen von jungen Blättern fallen oder eine Bettlerin ihre Hand ausstreckt, niemand wird ihn dort vermissen, niemand. Lautlos blättert die Zeit in ihren Journalen und wirft lange Schatten auf all die Winzlinge, die jemals an solchen Orten auftauchten und wieder verschwanden. Wer nennt die Namen, kennt die Herkunft? Gleichgültig schmunzelt der Hauch, der gerade darüber weht, die Fragen weg. Wozu?
Es ist doch nur immer der Augenblick, der flüchtige, der die gesamte Fülle des Ortes dem Betrachter anbietet. Hat er es überhaupt bemerkt? Hat er seine Sinne darüber fahren lassen, ist er eingedrungen in die tiefer führenden Gänge selbstvergessener Schönheiten fliegender, flimmernder Staubteilchen? Und nimmt er es mit, bewahrt er es auf, kann er sich später noch erinnern? Aber an was wird er sich dann erinnern beim Erinnern daran?
Schon ist es vorbei. Der nächste Augenblick lässt schon nicht mehr an den vorhergehenden denken. Verflogen, zerstoben, weg.
Und wenn dann eben derselbe erneut Nachträge anschleppt, was werden sie beitragen können zu jenen üppigen Augenblicken? Einbildungen, Andeutungen, Wunschbilder. Irrtümer.