02 Jan

Blatt 101 – Historischer Roman (Leseprobe)

Die geheimnisvolle Geschichte der Amme

Während die beiden Äbte im Kloster des Columbans misstrauisch einander umkreisen, immer in der Hoffnung, dass der andere sich verrät, liegt Somythall im Halbschlaf und hochschwanger halb im warmen Wasser der römischen Therme und träumt sich in das Bild des Dionysos, der scheinbar wohlwollend auf sie hinabschaut. Neben ihr kniet Bruniguld, ihre Amme. Sie knetet in gleichbleibender Bewegung ihrer Hände und schmalen Finger Arme und Nacken Somythalls.

Ich muss dir ein Geheimnis anvertrauen, mein Kind“, flüstert Bruniguld.

Somythall schließt genüsslich die Augen. Sie schwitzt angenehm, denkt immerzu an das Kind, das da in ihr wächst.

Willst du es nicht hören?“

Was?“

Das Geheimnis.“

Wenn Bruniguld wüsste, was ich für Geheimnisse erzählen könnte. Somythall denkt an ihre Großmutter, an Brighid, im fernen Louernia. Voegrun. Ein Stich fährt ihr durch den Leib. Voegrun Coemgen. Ob er an sie denkt, der schöne? Sie würde gerne Bruniguld von Atawima erzählen, der großen Göttin. Da kommt ihr aber Brunigulds Stimme dazwischen:

Gar nicht weit von hier – höchstens zwei oder drei Tagesreisen der untergehenden Sonne entgegen – hat sie ihren Tempel, weit über tausend Jahre wohnt sie dort schon.“

Somythall fühlt einen leichten Schauer durch ihren warmen Leib gehen. Von wem redet Bruniguld da? Als sie jetzt wieder die Augen einen Spalt weit öffnet und in das Lächeln des Dionysos sinkt, fährt ihr die Erinnerung an ihre Entführung durch den Kopf. Der Schreck ist fast so groß wie damals, als es passierte, als Rochwyn mit seinen Leuten auf die Jagd gegangen waren, als…

Atawima. Sie heißt Atawima. Seit über tausend Jahren geben ihre Priesterinnen dort ihre fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiter. Hast du nie davon gehört?“

Somythall kann es nicht fassen. Hatte Bruniguld gerade von der fast schon vergessenen Botschaft vom Glück geflüstert?

Atathima?“ Somythall tut so, als habe sie diesen Namen noch nie gehört.

Nein, Atawima. Du hörst mir ja gar nicht zu.“

Bruniguld ist verunsichert. Sie war sich ganz sicher, dass Somythall bescheid weiß. Sie war sich ganz sicher. Und jetzt kennt sie nicht einmal ihren Namen! Sollte ich mich so getäuscht haben? Bruniguld schweigt, knetet Somythalls Arme und verliert sich im großen Mosaik, auf dem zahhllose Wassertropfen glänzen oder in eigenartigen Linien an der Wand hinabrutschen wie erschöpfte Bergsteiger. Wasserdampf wabert zwischen den beiden Frauen und den alten goldglänzenden Figuren an der Wand.

Ob ich vor der Geburt dort noch hinreisen sollte?“

Da geht es wie ein Freudenschrei durch Brunigulds Körper: Ich habe mich also doch nicht getäuscht, sie weiß, wovon ich rede.

Es hat seit Tagen nicht mehr geregnet oder geschneit. Die Wege scheinen begehbar zu sein. Du könntest dich ja in deiner Sänfte tragen lassen.“

Eine innere Stimme sagt Somythall, dass sie gehen soll, dass sie gerufen wird, dass die große Göttin ihre Hand über sie hält, dass es auch für die Geburt gut wäre.

Rochwyn sollte aber mitkommen. Er würde mich sonst sicher nicht gehen lassen.“

Bruniguld hätte eigentlich gerne protestiert, aber da ist gar kein Drängen in ihr, das auszudrücken. Wie kann das sein, fragt sie sich. Wie kann Atawima einverstanden sein?

Rochwyns Geschlecht – du weißt, er und seine Familie stammen aus Arelatum – ist den alten Göttern stets treu geblieben. Die Christen findet er verlogen und herrschsüchtig, auch die Arianer, die Westgoten. Sein Vater hat sogar enge Beziehungen zu Guntram, dem König der Burgunder, gehabt, er war sogar der Taufpate von Theuderich. Du weißt doch, dass Brunichild dessen Vormundschaft inne hat oder?“

Brunichild? Du solltest nicht einmal ihren Namen ausprechen! Sie ist eine Zauberin, die Königin von ganz Gallien werden möchte. Nenne nicht ihren Namen, nie!“

Somythall hält den Atem an. Bruniguld hatte ihr fast weh getan, als sie den Namen der fränkischen Königin aussprach. Warum diese Ablehnung? Vielleicht könnte auch Brunichild für die fast schon vergessene Botschaft vom Glück gewonnen werden, vielleicht arbeitet sie sogar insgeheim auf Seiten der großen Göttin. Wie könnte sie auch sonst so mächtig und von den Männern gefürchtet sein, denkt Somythall. Aber sie schweigt. Bruniguld wertet ihr Schweigen als Einverständnis. Ihre knetenden Finger lösen sich ein bisschen aus ihrem festen Zugriff. Sie seufzt wie eine Alte, die ihr Enkelkind endlich überzeugt hat, ihr zu gehorchen.

Somythall schließt ihre Augen wieder ganz. Auch sie seufzt und atmet tief ein und aus.

So wird ja auch ihr Warten auf die Niederkunft verkürzt, denkt sie erleichtert. Und zu Atawima wollte sie eigentlich schon auf der Hinreise. Doch da war die Entführung dazwischen gekommen. Und wie aus heiterstem Wintersonnenhimmel fällt ihr Julianus ein, die Villa, Marcellus, Philippos. Warum gerade jetzt? Sie lässt sich einfach wohlig in einen Tagtraum fallen: Als sie die Vorhänge ihrer Sänfte zurückschlägt, um einen ersten Blick auf den Tempel von Atawima zu werfen, steht mit strahlendem Lächeln im Gesicht Julianus vor ihr, verbeugt sich tief und sagt dann in gepflegtem Latein:

Herrin, ich begrüße euch hier an diesem heiligen Ort. Ich soll euch Grüße ausrichten von unserer Schutzgöttin, von Diana.“

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