Leseprobe – Historischer Roman II Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück Blatt 104
Ein unglaubliches Gespräch zwischen Göttern und Menschen
Sie waren zügig voran gekommen – trotz Sänfte, trotz Winter, trotz den unsicheren Zeiten. Somythall ist voller beflügelnder Bilder: Rochwyn, wie er sich sorgt und sorgt um sie; die Wolken und Wälder im Winter, wie sie sie wohlwollend zu begleiten scheinen. Ihre lautlose Kraft, ihre Beständigkeit und ihr Wandel. Das gleichbleibende Schwanken der Sänfte auf ihrem Marsch, die scheinbar nie erschöpften Sänftenträger. Es hatte nur etwas mehr als zwei Tage gedauert. Jetzt sind sie gut empfangen und untergebracht im hölzernen Gästehaus der Priesterinnen und alle ruhen sich aus.
Ihre Amme Bruniguld weicht nicht von ihrer Seite. Wenn sie Rast machten, erzählte sie Somythall immer wieder von den Priesterinnen: „Es sind unsere Vestalinnen!“ flüsterte sie verschwörerisch, und noch bevor Somythall überhaupt fragen konnte, wie sie das meine, legte sie ihren Zeigefinger auf die Lippen und sagte dann: „Herrin, du wirst sehen, warte nur!“
Sie soll mich nicht immer Herrin nennen, denkt Somythall; aber sie ist nicht davon abzubekommen. Jetzt ist es Zeit, hinauf zum Tempel der Göttin Atawima zu gehen. Rochwyn hatte ihr am frühen Nachmittag berichtet, was es alles über diesen breiten Hügel an Geschichten gab und gibt: Der Hügel sei ein Grab. Das Grab einer keltischen Prinzessin, die hier wie eine Göttin mit kostbaren Geschenken, ihrem Lieblingspferd, ihren Prachtkleidern bestattet worden sei. Vor mehreren hundert Jahren. Aus den kleinen Pfahlbauten der Wächter sei dann später eine Niederlassung von Priesterinnen der Isis geworden.
„Isis?“ fragt Somythall hellhörig geworden.
„Ja, als Gallien noch römische Provinz war, ist hier wohl mal eine Legion auf ihrem Weg nach Britannia vorbeigekommen und die hatten anscheinend viele Götterbilder mit dabei, unter anderem auch die von Sol, von Mithras und eben auch von Isis, mit ihrem Kind auf dem Schoß. Da sind dann welche hier hängen geblieben und haben einen geheimnisvollen Kult begründet. Man sagt, es sei eine Schlangengöttin, die hier nachts im Frühjahr erscheine. Atawima.“ Dabei schmunzelt Rochwyn. Er hatte sich nämlich in Luxovium nur unwissend gestellt, als sie ihn gefragt hatte, ob er sie begleiten wolle. Somythall spielt die empörte: „Du hast mich also betrogen!“ „Nein, ich wollte mich nur nicht vordrängen. Bruniguld hatte das ja schon für mich erledigt.“ Somythall ist sprachlos. So wunderbar umsorgt zu sein, tut ihr gut.
Jetzt, als sie kurz vor dem Hügelplateau schwer atmend angekommen sind, wird der weitere Weg beidseitig gesäumt von den Priesterinnen, die mit Fackeln da stehen und sich leicht verbeugen. Somythall kann es nicht glauben, denn alle haben auf ihren langen grauen Gewändern ein rötliches Zeichen aufgenäht, das sie aus ihrer Heimat kennt, aus den Erzählungen ihrer Großmutter: Ein Kreis, der auf einem Baum steht, mit zwei dicken Ästen quer darunter. Und dazu hatte ihre Großmutter immer eine Melodie gesummt. Altes Lied, sehr altes Lied, war alles, was sie dazu sagte, wenn Somythall sie danach fragte. „Wir Frauen sind die Wächterinnen einer frohen Botschaft, wir fühlen es einfach, wie Glück geschehen kann – wenn wir die Göttin nicht vergessen.“
Dann sind sie direkt vor dem Tempel, und diesen Augenblick wird sie nie, nie vergessen können. Ihr Blick fällt direkt durch das offene Tor ins Innere des Tempels, sie hat Weihrauch in der Nase und weit hinten, im schwachen Licht von Kerzen kann sie auch eine große Statue erkennen.
„Oh, Göttin, mein Leben will ich…“ spricht Somythall lautlos in sich hinein; aber sie wird unterbrochen, es verschlägt ihr die Sprache, denn hinter dem Tempel, im fahlen Abendsonnenlicht ist der weite Himmel über und über mit tief hängenden schwarz-grauen Wolken verhängt, darunter noch ein dünner Streifen helleres Firmament; und jetzt fahren Blitze durch dieses düstere Gewölk, mehrere, und Somythall weiß, dass es die Göttin sein muss, die ihr diese großen hellen Zeichen sendet.
„Sie antwortet mir.“
Auch glaubt sie ein fernes Grollen zu vernehmen. Und das mitten im Winter. Sie verliert fast die Besinnung, sie muss sich fest am Arm von Bruniguld abstützen.
„Herrin, ist dir nicht gut?“ fragt erschrocken die Amme. Aber Somythall schüttelt lächelnd den Kopf, lässt sich einfach in den Tempel geleiten, mit geschlossenen Augen, denn sie ist jetzt im Gespräch mit der Göttin, der Blitze schleudernden, der Schlangengöttin, der Lichtfrau:
„Wenn du mich bis hierhin begleitet hast, dann wirst du sicher auch noch den Rest meiner Reise schützend verfolgen oder?“ fährt sie fort in ihrem Gebet. Jetzt wird der Geruch von Weihrauch über stark, ihr wird leicht übel, sie sinkt auf die Knie, streckt die Arme aus und legt sich auf den steinernen Boden, direkt vor dem Abbild der Göttin. Sie weiß nicht: „Ist mir heiß oder ist mir kalt?“ Bruniguld tuschelt besorgt mit Rochwyn: vielleicht war diese Reise doch zu viel für eine schwangere Frau. Aber Rochwyn beschwichtigt sie.
Und Somythall glaubt die Stimme ihrer Göttin zu hören, während hinter ihnen die Priesterinnen gerade eine Melodie zu summen beginnen, die ihr irgendwie bekannt vorkommt.
„Sorge dich nicht, Somythall, ich halte meine Hand über dich. Vertraue den Deinen – sie werden auch deine Niederkunft helfend und rettend begleiten.“
Später, als Somythall ihre Augen aufschlägt, ist sie allein in ihrer Zelle, die ihr die Priesterinnen für ihren Aufenthalt zur Verfügung gestellt hatten. Wie ist sie hier hin gekommen? Was ist passiert? Eben noch hatte sie doch mit der Göttin gesprochen, sie hatte ihr sogar geantwortet, meint sie. Warme Decken hüllen sie ein, fahles Mondlicht fällt durch das kleine Oberlicht. Sie ist allein. Da fühlt sie wieder das Strampeln ihres Kindes in ihrem Bauch und kann vor Glück kaum still sein. Singen möchte sie, singen vor Glück.