AbB – Erneute Annäherungsversuche # 6
D e r Z i e g e n m a n n
In den fünfziger Jahren tauchte in den USA angeblich ein Mischwesen aus Ziege und Mensch auf, das Jagd auf Teenager machte. (in: SZ Sa/So, 30./31. Juli 2022, Nr. 174, S. 20 – Von Florian Welle – (nach der Lektüre:)
Da war der Floh gerade mal zehn Jahre alt und mit seinen Albträumen ganz allein. Während auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans die ehemaligen Europäer mutwillig ihrer eigenen Natur massiv in den Rücken fielen und der Massenproduktion von Waren fanatisch huldigten und sie als frohe Botschaft zurück ins darnieder liegende Europa sandten, holte der gekränkte Gott der Lebenslust zu einem Gegenschlag aus:
Er reiste nicht mehr – begleitet von wilden Musikanten, wilden Tieren, wilden Wein und wild tanzenden Mänaden – durch die Länder dieser Welt, um den Menschen eine Freude nach der anderen zu bereiten, sondern er verwandelte sich – das hatte er wohl seiner Begleitung, lauter Mischwesen, den Silenen und Satyren, abgeschaut – ebenfalls in ein furchterregendes Mischwesen aus Ziege und Mensch. Dabei begegnete er zufällig in der Neuen Welt auch Ches McCartney, der in einem alten Wagen durch die Vereinigten Staaten rumpelte; ‚gezogen wurde sein klappriges Gefährt von mehreren Ziegen und er selbst trug mit Vorliebe Kleidung aus Ziegenmaterial – ein Abtrünniger, dachte der gekränkte Gott, einer, der sich nicht verführen ließ vom patriarchalischen Gewaltsystem, von dem er als Mann ja hätte profitieren können. Eine traurige Figur in seinem Widerstand.
Warum verweigern sich die Männer und Frauen ihrer eigenen Natur?
Warum verneinen sie Lebenslust und Sinnenfreude in ihrem Sein?
Warum verneigen sie sich vor Angst, Gewalt und Unterdrückung?
Warum feiern sie nicht mehr die üppigen Angebote der Natur und fertigen stattdessen künstliche Produkte an, die sie anbeten, als wären sie es wert?
Statt Antworten erlebt der Ziegenmensch seitdem nur schrilles Geschrei, Gezappel und Gemetzel. Der Mensch, dieses so begabte und phantasievolle Wesen, hat sich selbst domestiziert und seine innere Natur, die so voller Lust auf Leben und Lieben angelegt ist, eingesperrt in einem Zwinger, der eingezäunt ist von todbringenden Gittern und keinen Toren ins Freie hinaus. Die Frauen müssen auf dem Altar dieses Götzendienstes Jahr für Jahr ihre Opfer abliefern, tränenschwer und unsagbar traurig. Warum tun sie das? Warum tanzen sie nicht mehr – wie die Mänaden – den ekstatischen Tanz ungehemmter Lebensgier?
Es sind die Männer – sie nennen sich hochnäsig Patriarchen – die diese gewaltsame, lebenslange Haftzeit allen aufzwingen, gnadenlos. Und schon so lange…zu lange!