Historischer Roman II – YRRLANTH – Leseprobe – Blatt 188
Pippa mit Sumil auf der Flucht nach Mons Relaxus.
„Wo bist du?“, war der erste Satz gewesen, den Pippa zitternd hervorbrachte, als sie früh morgens in der hohen Höhle der vielen Götter aus dem Schlaf fuhr. Der Platz neben ihr: leer. Julianus spurlos verschwunden.
Das ist aber schon Tage her. Seitdem bangend vor neuen Überfällen unterwegs. Richtung Westen. Richtung Mons Relaxus. Somythall hatte ihr die wichtigsten Orte der Rückreise nach Hibernia genannt. Dass sie allerdings in Augusta Treverorum ihren Tod finden würde, hatte Somythall natürlich nicht gedacht. Und dass Julianus Pippa mit seiner Truppe bis nach Bynnchaer bringen wollte, hätte sie sich auch nicht träumen lassen. Und dass sie sogar gierig über einander herfallen würden – in der nach Weihrauch duftenden Götterhöhle – dass kommt ihr nach wie vor wie ein Traum vor.
Dennoch hat sie so viel Glück in ihrem Unglück gehabt: Die Hüterinnen und Hüter der Götterhöhle haben ihren Trupp mit weiteren Kämpfern verstärkt. Sie sind ortskundig und haben schon oft den weiten Weg nach Westen, nach Mons Relaxus, hinter sich gebracht. Aber was noch viel wunderbarer ist, dass noch drei junge Männer zu ihnen gestoßen sind, die ihr völlig fremd waren, die aber Somythall gut gekannt hätte, wenn…
Und wieder kommen ihr die Tränen. Sie tropfen auf die kleinen Bäckchen von Sumil, die sie einfach nur anlächelt. Pippa sitzt auf ihrem Pferd quer, hält Somythalls Tochter fest in ihren Armen und betet in einem fort zur großen Göttin Atawima: „Soju, toju, waltantaju…!“ Rochwyn, Sumils Vater: tot. Somythall, Sumils Mutter: tot!
Ich muss es schaffen! Mit diesem Gedanken wacht Pippa jeden Morgen auf. Mit jedem Morgen kommt ihr das Meer ein Stück entgegen: Mons Relaxus. Wird sie ein Schiff finden, dass sie nach Isca Dumnoniorum, nach Idomm, wie Somythall lachend den Zungenbrecher vereinfacht hatte, nach Idomm bringt? Die drei sind wirklich außergewöhnliche Männer, geht es ihr durch den Kopf. Jonas, David und Jakob. Rochwyn und Somythall hatten sie in Argentovaria getroffen. Damals wollten die drei nach Aquitania fliehen, aber die Götter hatten wohl anderes mit ihnen vor. Als Juden wurden sie überall gehänselt, bespuckt, mit Steinen beworfen. Schließlich, als die Franken sie gefangen nehmen wollten, waren sie einfach Richtung Westen geflohen, kopflos, völlig verängstigt. Und waren zufällig auf den eigenartigen Reitertrupp gestoßen, in dessen Mitte eine junge Frau mit
Kind auf den Armen mitritt. Und als sie erfuhren, dass die Kleine Somythalls Tochter ist, sahen sie in dieser unvorhersehbaren Begegnung ein Zeichen ihres alten Gottes, Jehova, denen zu helfen, um sich selbst zu helfen. Jetzt reiten sie stolz an der Spitze, Julianus Kämpfer hatten ihnen gerne den Vortritt gelassen. Die Verstärkung war ihnen nur sehr recht. Einem Boten, der von Mons Relaxus auf dem Weg nach Lutetia war, gaben sie ein Schreiben mit, damit ihr Herr (sie hatten natürlich keine Ahnung, dass dieser Herr gerade dabei war, Bischof von Dividorum, der blühende Stadt an der Musalla, zu werden) wusste, wo sie gerade sind und dass sie gut voran kommen. Schon in zwei Tagen werden sie in Mons Relaxus sein. Wenn nicht Wegelagerer sie überfallen.
Sumil beginnt zu weinen. Sie braucht eine Pause.
„Können wir halt machen?“ ruft Pippa nach vorne, wo Jonas, David und Jakob gerade über irgendetwas zu lachen scheinen. Wie an Fäden gezogen richten sie alle drei gleichzeitig ihren rechten Arm in die Höhe: „Halt!“ Schnaubend bleiben die Pferde stehen. Auch sie freuen sich über eine Pause.
„Bildet einen Kreis und haltet die Augen offen!“, ruft der Anführer der Truppe von Julianus in die Gruppe. Sie befinden sich gerade inmitten eines alten Buchenwaldes, wo sicher der Zauberer Merlin sein Unwesen treibt. Oder gerade mit Morgane in Liebesspielen schwelgt. Das Sonnenlicht dringt noch gut durch das junge Blättergrün der Bäume. Auf dem weiten Moosteppich glitzern Wassertropfen in allen Farben. Die Pferde suchen nach Grashalmen. Die Reiter vertreten sich die Füße, helfen Pippa mit Sumil vom Pferd. Gleich hört sie zu weinen auf.
„Ist es noch weit?“ fragt Pippa Jakob. Der schüttelt nur den Kopf, obwohl er gar nicht weiß, wie weit es noch ist. Er und seine Brüder, sie waren noch nie so weit im Westen wie jetzt. Sie kennen sich besser am Rhenus aus, aber da konnten sie ja nicht länger bleiben. Die Römer hatten sie geduldet, die Franken mit ihrem neuen Gott aber nicht. Ob sie nach ihrem Umweg über Hibernia doch noch zu ihren Verwandten in Aquitanien gelangen werden? Diese Frage wollen sie sich aber im Augenblick gar nicht erst stellen. Außerdem sind sie von Pippa und Sumil so begeistert, dass diese bangen Fragen um ihre Zukunft gerade gar keinen Platz haben in ihrem Gedächtnis.
Das Geschrei von zwei Greifvögeln über dem Buchenblätterdach geht Pippa durch und durch. Sind es Boten? Von wem? Welche Botschaft bringen sie? Auch Sumil schaut ängstlich nach da oben. Wer ist das?