Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 44 – Leseprobe
Vor der Ankunft in Ithaka
Parturiunt montes, nascetur riduculus mus…(Horaz)
Vulkane waren seine Lieblingsberge, schon immer. Er ist die Maus, die hektisch im Krater hin und her wuselt und nicht weiß, ob sie nach unten oder nach oben flitzen soll…Andere nehmen ihm die Entscheidung ab. Sprachlos spielt er mit und kommt voran.
Nach einer beispiellosen Irrfahrt über wild wogende Wellenberge an verführerischen Sirenen vorbei und nach manchen ungeplanten Landgängen auf fremden und unwirtlichen Inseln scheint er nun wieder in die Bucht von Ithaka einzulaufen…
Wenn er jetzt müde am Ufer steht und aufs unendliche Meer blickt, dann kommen sie wieder, die wohlversorgten Erinnerungsbilder und umschmeicheln den nachdenklichen Odysseus. Nein, er war nie ein listenreicher, nein, auch war er kein großer Krieger. Er war ein unruhiger Läufer, der nirgends wirklich sesshaft werden wollte. Er hat noch die freundlichen Worte des Abschieds im Ohr, die eben erst auf ihn herab rieselten. Man dankte ihm überschwänglich, bedauerte seinen Weggang. Dem Alten muss man kein Märchen erzählen. Aber die heilige Buerocratia will es so. Dann soll es auch so sein. Mit seiner weißen Mähne stand er da in der großen Halle, ließ sich beklatschen, beschenken und ging dann ins gleißende Licht hinaus.
Wie oft hätte er schon verabschiedet werden sollen? Wie sehr hat er solches Gebaren gemieden, gehasst? Nachdenklich lässt er die Augenblicke noch einmal vortreten:
„Nun, was willst du mir sagen, Mönch?“ „Nun. Du hast deine Sache gut gemacht, bis auf Mathematik. Die alten Sprachen, Geschichte – das war offensichtlich schon damals deine Welt.“
„Das mag wohl sein, aber ich hatte es nicht vor Augen. Ihr hättet deutlicher die Talente würdigen müssen. Man huldigte lieber der Distanz und blieb im Unverbindlichen. Schade. So wurde ich mir kaum bekannt.“
Schnell wendet er sich ab, sieht sich noch mit seinen beiden Portalfiguren im Siebengebirge zu Mittag essen, dann ist er wieder allein. Sie hatten ihn gefragt, wohin die Reise denn gehen sollte. Ausweichende oder irreführende Antworten gibt er gern, wenn überhaupt. Was soll er denn auch sagen? Er übt sich lieber weiter im Schweigen, eines seiner besten Disziplinen. In Uniform gab es sowieso nicht viel zu sagen. Er machte einfach, was er sollte, und machte es gut. Und zum Glück keine Verabschiedung am Ende.
So vergingen die Jahre. Wie in einem zittrigen Kaleidoskop verwackeln die Bilder kunterbunt in seinem Gedächtnis dazu. Sirenen gab es zuhauf.
(aus: Der Gesang der Flusskrebse. Roman von Delia Owens. Carl Hanser Verlag 2019 München – „…Kya ließ die Zeitschrift sinken. Ihre Gedanken
trieben dahin wie die Wolken. Manche Insektenweibchen fressen das Männchen nach der Paarung auf, überlastete Säugetiermütter verlassen ihre Jungen, viele Männchen entwickeln riskante oder gerissene Strategien, um ihre Konkurrenten bei der Fortpflanzung auszubooten. Nichts schien zu ungehörig, solange nur die Uhr des Lebens weiter tickte. Kya wusste, dass das keine böse Seite der Natur war, dass es sich lediglich um einfallsreiche Methoden handelte, um den Fortbestand der Spezies allen Widrigkeiten zum Trotz zu sichern. Bei Menschen musste es doch um mehr gehen.“)
Hätte es auch gehen können – zumal es über Nacht eine Pille gab, die alle Panik dem Männchen beim Kopulieren nahm. So suchte er hektisch nach der großen Zauberin, die es nicht gab. Der Fortbestand der Spezies unterlag fortan kopflastigen Weisungen und Zukunftsvisionen.
Und wie er jetzt so da steht, kann er nur den Kopf schütteln: Was für Wörterberge schüttete er vor sich auf, um sich dahinter ratlos verbergen zu können! Niemand bekam ihn damals wirklich zu Gesicht. Maskentanz, weiter nichts. Zauberreigen in Endlosschleife. Er muss vielen Abbitte leisten, vielen.
Wie auf einem Marathonlauf hastet er von Anlegeplatz zu Anlegeplatz, lässt sich gerne stärken – am besten im Laufen – und weg ist er wieder.
Schließlich entscheidet er abrupt am Ziel zu sein und will seinen Beitrag zum Fortbestand der Spezies leisten. Auch seine Begabungen beginnen Wirkung zu zeigen, allmählich.
Schließlich lässt er sich nach Jahren des Schaffens und Bildens verabschieden. Erst viel später wird er verstehen, wie gerne man ihn weg lobte – er war ihnen zu wenig vernetzt und zu erfolgreich unterwegs. So verstand er nichts von dem, was eigentlich abging. Ihm selbst versagte fast die Stimme dabei.
So legte er an einer neuen Insel an, die er maßgeblich neu gestalten wollte. Eine schöne Aufgabe für ihn, der er sich maßlos widmete. Den eigenen Kindern allerdings fehlte so zu oft der rastlose Architekt.
Und als er wieder in See stechen musste, verbat er sich vehement lobende Abschiedssuaden. Denn inzwischen war er nicht nur der Worte mächtig, sondern hatte auch gelernt dahinter zu schauen. Neid Missgunst und mutwillige Unterstellungen verbargen sich hinter säuselnden Lobeswolken. Stattdessen war es bloß guter Wind für die offene See. Reich beladen mit wertvollen Gütern und einer großen Familie legte er ab und fühlte sich frei wie ein Seeadler, der von oben das kleinliche Treiben scharf beäugt und gerne hinter sich lässt.
So begannen die großen Jahre und vergingen wieder. Feste ohne Ende? Wie vom Winde verweht stehen sie jetzt vor seinem wehmütigen Auge: Er war angekommen und demütig geht er in die Knie: Mutter Natur hat ihn reich beschenkt. Einiges von diesen Geschenken kann nun weiter wirken. Wie schön!