Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 50 – Leseprobe
Über Anmut und Gracie – Teil I
Je länger er darüber nachdenkt, desto klarer scheint ihm zu sein, dass die Bilder der Wirklichkeit, die er sich macht, unablässig in Bewegung sind: unscharf werden, weg driften, verwandelt wieder zurückkehren und eine scheinbar völlig neue Geschichte erzählen, einfach so.
Was für ein Fest der Sinne, was für eine Vielfalt, was für Überraschungen!
Aber die Augenblicke in den Armen der Kunst sind demgegenüber stets Augenblicke des völligen Bei-Sich-Seins, der Wahrheit. Kleist, der Sprachfetischist, hat es geahnt, hat es immer wieder thematisiert und gespürt, dass man ihn eher für überspannt, für verirrt, für verloren hielt als für einen Spurenleser, einen Menschenfreund, der Hände ringend seine Botschaft anbietet. Aber niemand will ihm zuhören. Denn jeder scheint zu spüren, dass damit die Stunde der Wahrheit angesagt wäre, der Entscheidung, lieber alt vertraute Pfade blind und taub weiter zu stapfen oder barfuß im Fließsand sich zu bewegen. Verunsichert, ängstlich und auf die Hilfe anderer angewiesen.
Thomas Hettche scheint in seinem neuen Roman „Herzfaden“ (was für ein genialer Titel!) genau diesen Pfad schreibend zu begehen und den Leser einzuladen, ihm vorsichtig und fasziniert zugleich zu folgen.
Und für jeden ähnelt der Weg dem des anderen seit jeher:
Am Anfang sind es die Wärme und die Flüstertöne, mit denen die neuen Erdenbürger in den Schlaf geredet oder gesungen werden. Aber schon hier bilden sich die ersten Bilder heller und dunkler Phantasien, die dem Nesthocker die Angst nehmen können, aus dem Nest zu fallen, allein gelassen zu werden. Oder eben auch nicht. Dann wächst die Angst und wird zunehmend die Bilderwälder verdüstern und durchbeben.
Dann beginnt die Zeit der Geschichtenerzähler. Und wieder werden Wörter gelernt und Bilder dazu gemalt und umgekehrt. Der kleine Mensch malt sich die Welt groß und fremd, aber auch voller Abenteuer und Riesen und sich selbst als Teil davon. Schließlich verwischen sich die Bedeutungen und schmelzen in das, was gut und böse bedeuten soll, und die Ängste kichern wild dazu ihren Albtraumreigen. Wo soll es hingehen, wer kann helfen, wer lehrt mich das fürchten?
Allmählich verfestigen sich die Erzählungen zu eingebildeten Wahrheiten, werden Wegweiser auf den Reisen, die nötig sind, um sich aus dem alten Bildervorrat zu lösen. Die Narrative wachsen und wachsen, der Heranwachsende sieht sich umstellt von zu vielen Angeboten im Dauerregen der zauberhaften Flimmerwelten, die wie Sirenen Tag und Nacht ihr Lied singen von Glück und Erfolg. Wer ihnen erliegt, ist verloren für sich und seinen eigenen Weg.
Denn das Herz braucht stets einen schier unzerreißbaren Faden, der es hält und über alle Unbill des Lebens trägt, als wären die Gefahren nur eingebildet und nicht wirklich. Anmut und Gracie? Wo? Wie? Warum?