Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 35
AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 35
S. 272/3 – „So sehr sich mein Vater später auch darüber freute, dass seine Kinder studierten, Dissertationen schrieben, die er selbst nicht geschrieben hatte, akademische Titel erwarben , die er selbst nicht hatte erwerben können – es muss schwierig gewesen sein. Unsere Erfolge, auf die er so stolz war, müssen ihn umso lebhafter an seine eigene Geschichte erinnert haben, an die Wege, die ihm verschlossen geblieben waren und die er, wie ich jetzt wusste, aus irgendeinem Grund ausgeschlagen hatte.“
(Heute ist Jonathans 32. Geburtstag. Der alte Floh kann sich nur freuen, was die Kinder aus eigenem Vermögen aus sich gemacht haben. Er, als der Vater, kann nur staunen. Es ist wie mit den Lehrern: Die Wirkung, die der eigene Einfluss auf die Kinder ausgeübt hat, ist im Nachhinein nicht offensichtlich, erklärbar. Er weiß nur, dass er immer wie der Fels in der Brandung sein wollte. Ohne Worte, einfach schützend und fördernd da sein. Und natürlich auch Vorbild. Natürlich? Jedenfalls werden die Kinder durch seine Art zu sprechen, zu agieren Bilder präsentiert bekommen haben, an denen sie sich abarbeiten mussten. Genauso wie es der kleine Floh mit seinem eigenen Vater erlebt hat. Sein Widerspruch hat ihn zu dem gemacht, der er wurde. Im Ergebnis erkennt er den Vater mehr wieder, als er es ursprünglich für möglich gehalten hat. Aber wie sein Vater den Werdegang seines jüngsten Sohnes erlebt hat, das bleibt weiter im Dunkeln. Es wurde nie thematisiert. Weder direkt, noch indirekt. War er stolz, war er froh, war er gekränkt, verletzt? Wie hat er seine eigene, an Hunger und Armut vorbei driftende Kindheit (1906) in Bayern verarbeitet? Er konnte sehr wohl stolz auf sich und sein Lebenswerk sein. Er hat seiner Familie ein Leben in gesichertem Wohlstand ermöglicht. Wortkarg und streng, aber immer fürsorglich und weitblickend. Wie sehr muss es ihn da gekränkt haben, dass sein jüngster so herablassend damit umging? Ist nicht sein eigener, privilegierter Lebensabend nur denkbar vor dem Hintergrund dessen, was sein Vater seinen Kindern hinterlassen hat? Und das nicht nur materiell. Nein, auch seine klare, sparsame und bescheidene Lebensweise hat den Floh maßgeblich mit geprägt. Fürwahr! Jedes Mal, wenn er zum Grab der Eltern geht, leistet er Abbitte, dankt er. Eine Haltung, die dem Floh als jungem Mann völlig abging. Es gab einfach keinen Diskurs im Hause Seiler. Selbst Illa hat später wenig klärendes nachreichen können, wollen. Ein grauer Schleier des Unausgesprochenen lag und liegt über dem Leben der Eltern – wie haben sie sich kennen und lieben gelernt? Wie haben sie die Ablehnung der Familie Losem – Illas Eltern – verarbeitet? Was ist aus den Träumen der begabten Sängerin geworden? Was verbarg sich hinter der Eifersucht des erfolgreichen Fabrikanten? Warum wollte sie ihn wieder verlassen? Was hat sie getrieben? Wie sehr hat der „Ruf“ maßgeblich zum Ausharren beigetragen: Was denken die „Leute“? Stolz waren sie beide. Zugeständnisse mussten sie beide machen. Wer war der stärkere?)