YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 180 – Leseprobe
Somythalls Tagtraum im Land der Schmerzen.
Sie hat Durst, Hunger, Schmerzen, Angst. Auf feuchtem Stroh liegt sie im Keller des Stadtpräfekten von Augusta Treverorum. Sie fleht zu ihrer Göttin: Hilf mir, bitte! Ein unwirkliche Stille umgibt sie. Als wären die Geister, die einst dieses dritte Rom vibrieren ließen, müde schlafen gegangen, als wären die Hunnen nie hier gewesen, als wären die stolzen Senatorenfamilien alle ausgestorben, als wäre die lange Reise, die sie mit Rochwyn von YRRLANTH bis an den Rhein gemacht hat, nur ein schwerer, langer Traum gewesen. Sie bricht in Tränen aus, als sie den Namen Rochwyn im Erinnern aufruft. Und hilflos wird sie nun überspült von weiteren Namen und Menschen, die ihr begegnet sind: Ihre Großmutter, Voegrun, Julianus. Und was ist mit Sumila, ihrem kleinen Töchterchen? Was mit Pippa? Hier im dunklen Verlies überfällt sie ein übermächtiges Begehren nach Leben, Freude, Singen. Dann birst Zorn aus ihr heraus: Diese Franken! Sie brauchen jemanden, der als Täter taugt. Und sie als Fremde, als Frau eignet sich dazu bestens. Da ist niemand, der für sie Partei ergreifen wird. Da sind nur lauter verängstigte Männer, die gerne sehen wollen, wie eine Frau gequält wird. Möglichst arm an Kleidung, möglichst verzweifelt. Damit sie sich wenigstens für einen Augenblick stark fühlen können.
Ich werde ihnen keine Schwäche zeigen, nimmt sie sich vor. Wie ein Fieber geht es ihr durchs Blut: Meine Göttin macht mich stark, sie wird bei mir sein, sie wird mich ihnen entreißen. Ganz sicher. Und ich werde dazu lachen. So geht es ihr im Kopf hin und her, bevor der Schlaf ihr etwas Erholung gönnt.
Später wacht sie erschrocken auf. Da war jemand. Ihr Herz rast vor Angst und Wut. Träume ich das oder täusche ich mich? Sie weiß es nicht. Es ist zu dunkel, um irgendetwas in diesem Kellerloch erkennen zu können. Doch dann sieht sie die Augen, die auf sie zukommen, riecht den schlimmen Atem, spürt die gewalttätigen Hände.
Somythall will sich von ihren Ketten losreißen. Das schmerzt schlimm an den Gelenken. Ich muss schreien. Wie wild schreit sie los: „Pippa, Pippa komm, hilf mir!“ Sie schreit so laut, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geschrien hat. „Weg! Sei verflucht! Mistkerl!“
Ihre Stimme überschlägt sich, sie tritt um sich, rollt sich hin und her, schreit noch lauter. Ihre hohe Stimme hallt am Kellergewölbe wieder, kriecht durch die kleinen Öffnungen hinaus ins Freie, in die stille Nacht und fährt wie ein Blitz durch die Nachtruhe. Der Angreifer hat damit wohl nicht gerechnet. Aber er spürt, dass diese kreischenden Töne ihn verraten werden. Grunzend und fluchend lässt er von ihr ab, stolpert zum Ausgang, die Steintreppe hoch. Aber oben sind bereits die Wachen aufgewacht, haben Fackeln entzündet, stellen sich ihm in den Weg.
„Halt!“ rufen sie wild entschlossen; sie werfen ihn zu Boden.
Somythall atmet schwer unten im Verlies. Die Göttin hat ihr die Kraft gegeben, so zu schreien, wie sie noch nie geschrien hat. Als sie sich jetzt zitternd an die Kehle fasst und sich räuspert, wird ihr klar, dass sie kaum noch Stimme hat. Aber es hat sie gerettet. Sie hat sich selbst gerettet. So kommen ihr trotzige Tränen. Wartet nur, ihr werdet schon sehn!