Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 38
Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 38
S. 315 – „Wieder ging mir durch den Kopf, was Brendan an dem Tag gesagt hatte. Vielleicht könnte man ja sagen, dass dies eine Geschichte über das Zuhören ist. Darüber, wie die eigene Sichtweise die Wahrnehmung beeinflusst. Tatsächlich ist es doch so, dass Polyphem von vornherein nur hört, was er hören will.„
(Da fällt dem alten Floh natürlich auf Anhieb auch noch Mephistoteles ein, der bei seinem Vertrag mit Faust auch nicht richtig zuhört; er ist ja viel zu aufgeregt, weil er glaubt, den Fisch im Netz zu haben. Was nun den kleinen Floh betrifft – natürlich wie immer heraufbeschworen in den wohlwollenden Bildern des alten Flohs – so ist er sich nicht so sicher, ob das auch auf ihn zutrifft. Denn eigentlich wollte er gar nicht nur das hören, was er hören will; er wollte eigentlich gar nichts hören. Denn jedes Mal stellte sich beim „Zuhören“ das mulmige Gefühl ein, er versteht es nicht, sollte es aber wohl verstehen können. Somit bastelte er sich ein Hörverfahren, dass beim scheinbaren Zuhören einfach auf Durchzug schaltete – und zwar so effektiv, dass er tatsächlich nichts mehr erinnerte, danach. Das wüste Selbsttor, das er dabei jedes Mal schoss, war ihm natürlich gar nicht klar. Und eigenartiger Weise kam er sogar durch mit dieser Unsinns-Methode. Erst viel, viel später – zuerst beim Lesen, wo er nämlich auch nicht sich selber zuhörte von Anfang an, so dass er hinterher überhaupt keine Ahnung hatte von dem, was er gerade gelesen hatte – bringt er sich im Selbststudium und in kleinen Schritten das Zuhören und Antworten bei; aber auch hier ist wie bei all seinen geistigen Klimmzügen die Intuition der Transmissionsriemen, der ihm brauchbare Ergebnisse ermöglicht, von denen die anderen dann meinen, er habe sie durch analytische Denkschritte herbeigeführt. Darüber hinaus hatte er das große Glück, dass Salome in sein Leben trat und mit ihrer Stimme und ihren Geschichten die Wende in seinem Leben ermöglichte.
Grundsätzlich hören und sehen wir Erdlinge wie selbstverständlich immer nur das, was wir hören und sehen wollen. Dazu ist die individuelle Sehweise per definitionem basal: weil jedes Gehirn eingeschlossen bleibt im eigenen Bilderwald, sind alle Verallgemeinerungen n a t ü r l i c h e r –
w e i s e willkürlich und unzutreffend. Mit Hilfe der Sprache – die aber auch im selben Bilderwald geerdet ist – versuchen sie dann eine begehbare Brücke zu schlagen zum Bilderwald des Gegenüber. Es bleibt aber der Satz:
Die Grundsituation jeglicher Kommunikation ist das Missverständnis.
Das versucht der alte Floh immer vorauseilend mitzudenken, um die Annäherung möglichst friedfertig und günstig zu gestalten. Und dass jemand wie Sokrates deshalb lieber die Frage in den Mittelpunkt stellt, als die Antwort, zeigt doch nur, wie klug dieser Mann ist –
Ich weiß, dass ich (es) nicht weiß.
So ist das Leben eine endlose und zauberhafte Reise zu sich selbst und den anderen. Die einzig sichere Ankunft dabei ist nur der eigene Tod.)
Da staunen die „Der-Weg-ist-das-Ziel“-Beter, wenn man ihnen an den Kopf wirft, welch naive Illusion es sei, zu glauben, sie hätten Wahlmöglichkeiten in der Bestimmung ihres Lebensziels. Unser aller Ziel liegt offen und zweifelsfrei da, seit wir den ersten Atemzug taten. Schon richtig, es hat drei Buchstaben, aber es ist nicht „Weg“.