Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 51 – Leseprobe
Fremdwörter in Kinderohren.
Im Bilderwald der „Westmächte“ hat man sich schnell verirrt. Überall lauern böse Dämonen. Tag und Nacht muss man wachsam sein. Jederzeit könnte man überfallen werden. Der Vater zieht bedeutsam die Augenbrauen hoch: Gefährlich, sehr gefährlich! Der „Kommunismus“ ist Teufelswerk. Die Mutter betet zu ihrer Göttin Maria: Nach so viel Leid – ihr jüngerer Bruder Johannes wird seit seinem letzten „Fronturlaub“ im Sommer 1944 vermisst – lass uns endlich Frieden finden! Es gibt keinen „Friedensvertrag“. Die Sieger haben sich zerstritten, nachdem sie die Beute unter sich geteilt hatten. Nun belauern sie sich misstrauisch und verdächtigen sich gegenseitig, den nächsten Schlag heimtückisch vorzubereiten. Über die Gräuel des Krieges schweigen wir lieber. Wir im „Westen“ haben ja Glück gehabt mit unseren Besatzern in „Trizonesien“. Wir dürfen ja sogar die eigenen „Schlimm-Nazis“ in eigenen „Spruchkammern“ anklagen und verurteilen – oder eben auch nicht. Die drüben sind schlimmer dran, da herrschen ja die Sowjets.
„Hiroshima“ – die Sieger im Westen siegen endlich auch im Fernen Osten.
„Korea-Krieg“ – zwar weit weg, aber brandgefährlich.
„Ost-Berlin“ – russische Panzer schlagen einen Aufstand nieder.
„Ungarn-Aufstand“ – zwar lobenswert, aber zum Scheitern verurteilt.
Dem Floh, der im Garten am Goldfischbassin mit seinem kleinen Segelboot spielt, fliegen solche Sätze bedeutungslos um die Ohren. Die Erwachsenen raunen bedeutsam im Hintergrund. Angst. Angst?
Wir müssen fest zu unseren neuen Freunden stehen, sie haben uns ja gerettet vor dem „Kommunismus“.
„Kommunismus“. „Eiserner Vorhang“. „Ulbricht“. Das sind die drohenden Wörter von drüben.
„Wirtschaftswunder“, „D-Mark“, „Ludwig Erhard“, „West-Bindung“, das sind die frohen Botschaften im eigenen Haus. Nichtssagend wie die anderen auch.
„Ost-West-Konflikt“, „Dritter Weltkrieg“. Der Floh atmet solche Begriffsmonster ein wie dicke Luft. Sie lasten eher wie ein Alb auf seiner schmalen Brust. Sein Vater versinkt im Sessel hinter seiner Zeitung. Die Mutter strickt. Beide mit Brillen auf den Nasen. Beide schweigend.
„So, jetzt aber ab ins Bett! Gute Nacht.“
Das waren schon ziemlich viele Wörter für einen ganzen Abend.
Und unter dem Bett lauern natürlich auch irgendwelche Ungeheuer.
Worüber sollte man denn auch reden?
So redet er auch kaum mit sich selbst. Schweigt vor sich hin mit Schmollmund und denkt sich kein Teil. Am besten gar nicht erst hinhören oder gar hin denken. Die wenigen Sätze verheißen sowieso nichts Gutes.
Das scheint auch die Mutter zu denken: Möglichst brisante Themen ausklammern. Geld zum Beispiel. Anschaffungen zum Beispiel. Die anderen zum Beispiel. Den eigenen Mann möglichst nicht wütend machen. Das geht nämlich ziemlich schnell. Also auch hier: Mund halten, die Dinge einfach aussitzen. Das scheint es, was der Floh nachhaltig lernt.
Es wird nichts vorgelesen, es werden keine Geschichten erzählt. Jeder steckt in seinem eigenen Schweigen fest, wie in einem Sumpf. Nur ja nicht bewegen, sonst sinkt man nur tiefer ein!
Und all die Begriffsbrocken sind längst im Schlund der rasenden Zeit verschwunden. Jetzt durchschaut er sie endlich. Jetzt sind sie aber auch nicht mehr wichtig. Damals viel Lärm um nichts. Oder doch nicht?
Die Gegenwart füllt sich gerade mit einem Wust an neuen Begriffen, die wie Hornissen über den Erdlingen brummen, als wären es bedrohliche Wahrheiten, denen man nicht ausweichen kann.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – nein.
Einmischen, nachdenken, zuhören, überprüfen, besprechen, verändern, helfen, Widerstand leisten, wenn gelogen und betrogen wird.